»Noch nie so viel Druck«: bib-Interview mit IHK-Geschäftsführer Dieter Salomon Wirtschaft | 25.03.2024 | Lars Bargmann

Ein Bild von Dieter Salomon Nun auch Chef des Normenkontrollrats: Dieter Salomon

Vom Oberbürgermeister zum Oberkämpfer gegen den Bürokratismus: Dieter Salomon war von 2002 bis 2018 der Chef im Freiburger Rathaus. Seit knapp fünf Jahren ist er Geschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Südlicher Oberrhein und seit vergangenem Oktober Vorsitzender des Normenkontrollrats in Baden-Württemberg. Im Gespräch mit Chefredakteur Lars Bargmann spricht der 63-Jährige über Werte und Wahnsinn, den Bürger und den Staat.

bib: Herr Salomon, Demokratie bedeutet die Herrschaft des Volkes. Bürokratie bedeutet die Herrschaft der Verwaltung. Die eine ist positiv konnotiert, die andere immer negativer, zu Recht?

Salomon: Bürokratie im Sinne von Max Weber, dem großen Soziologen und Ökonomen, bedeutet eine funktionierende Verwaltung, was ein zivilisatorischer Fortschritt ist, weil er im Gegensatz zur Willkürherrschaft im Feudalismus Rechtsstaatlichkeit und Gleichbehandlung ermöglicht. Wenn wir heute von Bürokratie reden, geht es um die übertriebene, übersteigerte Bürokratie, den Bürokratismus. Den beklagen die Leute zu Recht. Mittlerweile kann jeder seinen Alltag mehr oder weniger vom Handy aus organisieren. Aber wenn die dann mit dem Staat in Kontakt kommen, wird es schwierig.

bib: Die Digitalisierung wurde 20 Jahre verschlafen …

Salomon: Nicht ganz. Wenn ich vor 20 Jahren meinen Ausweis verlängern wollte, musste ich einen halben Tag Urlaub nehmen, eine Nummer ziehen, warten, und wenn ich Pech hatte, kam ich an dem Tag nicht mehr dran. Aber es stimmt schon, wir müssten viel weiter sein.

bib: Ob Handwerker oder Handelsbetrieb, Landwirt oder Logistiker: Alle nennen neben dem Arbeitskräftemangel die Bürokratie als größtes Hemmnis auf dem Weg in die Zukunft. Nach dem Motto: Für jeden, der arbeitet, brauche ich noch einen im Büro, der das Arbeiten dokumentiert.

Salomon: Die Welt wird immer komplizierter. Angefangen bei der EU. Wenn wir die ohnehin schon komplizierten EU-Gesetze dann in nationales Recht umsetzen, haben wir die deutsche Eigenschaft, dass wir noch fünf Standards draufsetzen. Nehmen wir die Datenschutzgrundverordnung, nicht einmal die gründlichen Skandinavier setzen die so kompliziert und kompromisslos um wie wir Deutschen. Manche Sachen treiben die Leute einfach zum Wahnsinn.

bib: Woher kommt die deutsche Gründlichkeit?

Salomon: Wir neigen aus unserem Gerechtigkeitsgefühl heraus dazu, dass wir jedem Einzelfall gerecht werden wollen. Das beschäftigt dann auch landauf landab die Verwaltungsgerichte. Am Ende wird das so kompliziert, dass keiner mehr durchblickt. Wussten Sie, dass 70 Prozent der auf der Welt erschienenen Steuerliteratur auf Deutsch erschienen ist?

bib: Nein, überrascht bin ich aber nicht …

Salomon: … das ist eine absurde Zahl und davon haben Steuerberater jahrzehntelang gut gelebt. Aber selbst die sagen mittlerweile, dass sie nicht mehr durchblicken. Das System frisst sich irgendwann selber auf. Auch die ganzen Meldedokumentations- und Berichtspflichten, die man erfüllen muss, wenn man irgendwelche Dinge beantragt beim Staat, die sind hypertroph geworden, es funktioniert einfach nicht mehr.

bib: Regierungschef Winfried Kretschmann hat bei Ihrer Vorstellung gesagt, man müsse dieses Mal mit dem Bürokratieabbau erfolgreich sein, weil man schlicht gar keine Leute mehr hat, die das alles kotrollieren und ahnden sollen. Schon allein deswegen funktioniert es nicht mehr …

Salomon: Recht hat er. Wir können aber nur erfolgreich sein, wenn wir einen guten Draht zur Politik haben und den haben wir jetzt in dieser Konstellation. Das Momentum, etwas spürbar zu ändern, ist im Moment so gut wie noch nie, weil die Politik noch nie so viel Druck hatte. Der Wirtschaft geht es schlecht, das Verhältnis Staat zu Bürger ist sehr angespannt.

bib: Wie kann man sich die konkrete Arbeit im Kontrollrat vorstellen?

Salomon: Ein Beispiel: Wir versuchen, die Schwellen für öffentliche Vergaben von Land und Kommunen auf die von der EU vorgegebenen Schwellenwerte, jährlich 221.000 Euro fürs Land und jede Kommune, hochzusetzen. Das hieße, dass fast zwei Drittel aller Vergabeverfahren entfallen. Da sprechen wir von Tausenden von Verfahren. Selbst die Handwerker, die die öffentlichen Vergaben eigentlich gut finden, sind nicht mehr bereit, bei Kleinaufträgen dieses komplizierte Verfahren mitzumachen. Die verzichten lieber auf den Auftrag.

bib: Bundesweite Schlagzeilen gemacht hat Ende 2023 Michael Hoff, der seinen Familienhandwerksbetrieb mit fast 100-jähriger Straßenbau-Tradition dichtgemacht hat: wegen überbordender Bürokratie. Auf seiner Home­page hat er eine ellenlange Liste aller Dinge veröffentlicht, die einen 15-Mann-Betrieb belasten. Verstehen Sie den Mann?

»Mich hat Bürokratie auch als OB oft genervt«

Salomon: Natürlich. Und das ist leider kein Einzelfall.

bib: Als ehemaliger Oberbürgermeister, der mehr im Gestalten zu Hause war: Was ist Ihre Motivation, einen Normenkontrollrat anzuführen?

Salomon: Mich hat die oft unverständliche Bürokratie auch als OB oft genug genervt. Man wollte etwas umsetzen und dann hieß es, geht nicht, weil irgendeine Vorschrift dagegenspricht. Ich hatte aber ein gutes Rechtsamt und habe dann gefragt, wie hoch ist das Klagerisiko? Wenn es 80 Prozent waren, haben wir es gelassen. Wenn es 20 waren, haben wir es drauf ankommen lassen. Dann haben wir immerhin für das Richtige gekämpft. Jetzt als IHK-Geschäftsführer habe ich zudem die Brille der Wirtschaft auf und weiß, dass der Bürokratismus den Standort kaputtmacht. Das geht so nicht weiter.

bib: Das Bundesjustizministerium von Marco Buschmann arbeitet aktuell am Bürokratieentlastungsgesetz IV (BEG). Da klingt es nach Satire, dass sein Ressort parallel gerade einen 120 Seiten (!) starken Gesetzesentwurf vorgelegt hat, der eine Versicherungspflicht für Aufsitzrasenmäher und Gabelstapler einführen soll …

Salomon: Das war mir neu, aber so richtig wundert mich das nicht. Und wenn eine Errungenschaft im BEG sein soll, dass Betriebe ihre handels- und steuerrechtlichen Buchungsbelege nur noch acht statt zehn Jahre aufheben müssen, dann sind das aus meiner Sicht Petitessen. Hier geht es um den Wirtschaftsstandort Deutschland. Und der hat nach einer neuen Studie des IFO-Instituts in den vergangenen zehn Jahren deutlich an Attraktivität verloren. Und wird, wenn sich nichts ändert, in den nächsten zehn Jahren weiter verlieren …

bib: Muss die Politik den Bürgern mehr vertrauen?

Salomon: Ja, wir müssen das Verhältnis Staat – Bürger auf neue Füße stellen. Der Staat müsste den Bürgern mehr vertrauen und erst mal unterstellen, dass sie den Staat nicht betrügen wollen. Wenn sie ihn aber doch betrügen, was immer wieder vorkommt, dann muss man das sehr hart sanktionieren.

bib: So wie es in den USA läuft.

Salomon: Ja, dort gibt es einen Vertrauensvorschuss.

bib: Obwohl nicht zuletzt die EU für sehr viel Bürokratie sorgt, stand der IHK-Neujahrsempfang ganz im Zeichen Europas. Warum?

Salomon: Wir haben uns klar für unser Gesellschaftsmodell, für die soziale Marktwirtschaft und gegen Abschottung entschieden. Wirtschaft lebt vom Handel und vom Austausch. Wir haben innerhalb der EU Freizügigkeit, das ist ein riesiger zivilisatorischer Fortschritt. Und auch dank der EU haben wir seit 1945 Frieden. Die europäische Integration ist das größte Friedensprojekt aller Zeiten.

bib: Aktuell sind in vielen Ländern die Europakritiker auf dem Vormarsch …

Salomon: Es gibt auch positive Wendungen. Dass Donald Tusk die Wahl in Polen gewonnen hat, ist für Europa ein Riesenfortschritt. Aber es stimmt, Ungarn, Italien und dass die Niederländer so wählen, hätten wir auch nicht gedacht. Auch die eigentlich sehr liberalen, toleranten und eher sozialdemokratisch orientierten Skandinavier haben rechte Tendenzen. Aber aus Sicht der Wirtschaft ist es völlig klar: Wir brauchen Europa, offene Grenzen, Internationalität. Davon leben wir.

»Völlig abstrus und menschenfeindlich«

bib: Andere reden von Remigration …

Salomon: Das ist völlig abstrus und menschenfeindlich. Mit der Idee eines ethnisch homogenen Volkes hat Deutschland viel Unglück über die Welt gebracht. Im Grundgesetz steht, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Die IHK macht keine Parteipolitik, ist aber nicht unpolitisch, deswegen waren wir auch Mitveranstalter bei Demonstrationen.

bib: Die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer hat beim Neujahrsempfang gesagt, Deutschland brauche jedes Jahr 1,5 Millionen Menschen, die einwandern, weil 1,1 Millionen auswandern. 400.000 müssen die starke Ver­rentungs­quote ausgleichen.

Salomon: Wir brauchen Migration, um das, was alle wollen, unseren Wohlstand, zu sichern.

bib: Also könnte man das Akronym AfD mit „Armut für Deutschland“ ausbuchstabieren?

Salomon: Eindeutig. Wer die AfD wählt, wählt den wirtschaftlichen Abstieg. Was den Wohlstand angeht, wäre das die Wahl für die totale Katastrophe und nicht die Rettung Deutschlands.

Foto: © Michael Bode, IHK Südlicher Oberrhein