Digitaler Doktor: Freiburgerin managt den Tabubruch STADTGEPLAUDER | 09.02.2018 | Till Neumann

„Man muss mit der Technik gehen“, sagt die Urologin Karin Schilli aus Bad Krozingen.

Für die einen ist es eine Revolution. Für die anderen Blödsinn. Seit dem 1. Januar können in Baden-Württemberg Ärzte per Telefon oder Videochat ihren Patienten helfen. Teleclinic heißt die zuständige Firma. Deren Freiburger Chefin ist überzeugt: In einigen Jahren ist der digitale Doktor normal.  

„Guten Tag, seit bereits 2 Monaten habe ich durchgängig Halsschmerzen und bin verschleimt bis in die Nase.“ Mit dieser Chat-Anfrage sucht ein Freiburger Student Mitte Januar in der chilli-Redaktion bei der Teleclinic Hilfe. Eine Minute später antwortet Carla Montana*, eine medizinische Assistentin. Die Oberfläche des Chats sieht aus wie ein WhatsApp-Fenster.  

„Ich werde Ihnen gleich einige Fragen zu Ihren Symptomen stellen“, schreibt Montana. Außerdem möchte sie wissen, ob der Patient schon etwas gegen seine Beschwerden unternommen hat. Dann fragt sie nach einer Telefonnummer und wann er erreichbar ist.  

„Zu lange hinterhergelaufen“

Was der Freiburger testet, kommt einem Tabubruch gleich: Bis zum 1. Januar war es in Deutschland verboten, dass Ärzte Patienten auf Distanz diagnostizieren – in anderen Ländern ist das Normalität. „Wir sind viel zu lange hinterhergelaufen“, sagt Katharina Jünger. Die 27-Jährige hat die Teleclinic 2015 gegründet und den Zuschlag fürs Landes-Pilotprojekt bekommen. So mancher schüttelt den Kopf: „Ausgemachter Blödsinn“, schimpft eine Freiburger Unternehmerin.  

Jünger kennt die Ablehnung. Es sei weniger geworden, sagt die Freiburger Juristin und Tochter zweier Ärzte. Ihre Firma leitet sie von München aus. Rund 200 Ärzte umfasst ihr Team. Die Beratung sei „so schnell wie bei Google“, wirbt ihre Klinik. Patientenanfragen werden sortiert nach Fachgebiet und Dringlichkeit. „In dringenden Fällen meldet sich jemand innerhalb von 15 Minuten, sonst sind es 24 Stunden“, sagt Jünger.  

Auch bei Fieber möglich

Die Nachfrage ist da. Nach einem RTL-Beitrag hätten sich bis zu 1000 Patienten pro Stunde gemeldet, berichtet Jünger. Der Klassiker seien besorgte Eltern oder Erkältungen. Etwa die Hälfte der Anrufer werde an einen herkömmlichen Arzt verwiesen. Den übrigen könne direkt geholfen werden. Die Telemediziner dürfen Rezepte und Krankschreibungen ausstellen. Wer mit Fieber im Bett liegt, muss sich für ein Attest nicht zum Arzt schleppen.  

Leitet die Teleclinic: Katharina Jünger

Die Telemedizin hat aber Grenzen: „Alles, wo man zum Beispiel Proben nehmen muss“, sagt Jünger. Stuhl, Urin, Blut. Doch sie ist optimistisch. Einiges könne technisch möglich werden.  

Telemedizin soll Zeit schaffen

Hautscreenings mit einer Smartphone-App etwa. „Wir wollen den Arzt nicht ersetzen“, betont sie. Man sei aber in bestimmten Bereichen schneller und könne helfen, den richtigen Arzt zu finden. „Viele Patienten im Wartezimmer müssten dort nicht sitzen.“ Soll heißen: Telemedizin soll mehr Zeit schaffen für Patienten, die dringend Hilfe brauchen.  

„Man muss mit der Technik gehen“, sagt Karin Schilli aus Bad Krozingen. Die Urologin ist Teil des Teleclinic-Teams. Bei Anfragen in ihrem Fachgebiet bekommt sie eine SMS aus München. Den Fall kann sie annehmen oder nicht. Mit vielen Patienten rechnet sie jedoch nicht. Vor allem Zweitmeinungen seien aber so möglich. Am meisten Nachfrage sieht sie bei Hausärzten.  

30,59 Euro für die Beratung

Rund 20 Patienten hatte Christine Reichert-Jünger in den ersten zwei Wochen des Jahres digital beraten. Die Nierenärztin aus Müllheim sieht Telemedizin als „sehr gute Ergänzung“ zur Arztpraxis. Erfahrene Mediziner könnten gewisse Fälle sehr wohl am Telefon diagnostizieren. Die Zahl der Patienten in Notfallambulanzen könne so drastisch reduziert werden.  

Ein Notfall ist der Freiburger Student mit Halsschmerzen nicht. Fast 24 Stunden später meldet sich telefonisch ein Arzt aus Niedersachsen bei ihm. Er vermutet einen Infekt und bittet den Patienten, dringend zum Arzt zu gehen. 30,59 Euro kostet den gesetzlich versicherten Studenten die vierminütige Beratung. Ein Hausarzt bekommt übrigens 48 Euro für jeden Patienten – im Quartal. Ein Orthopäde sogar nur 29 Euro. Ab 1. März sollen die Kassen die Kosten der Telediagnose tragen. Die Kassenärztliche Vereinigung hat für zwei Jahre ein neues Budget dafür geschaffen. So knabbern die Telefonärzte nicht am Kuchen der niedergelassenen.

Im Mai trifft sich wieder der Deutsche Ärztetag. Dort könnte beschlossen werden, das Angebot auf die ganze Republik auszudehnen. Die Chancen stehen gut, glaubt Katharina Jünger. Sie ist sicher: Was heute revolutionär klingt, ist in fünf bis zehn Jahren Normalität.  

Fotos: © Till Neuman & privat

*Name von der Redaktion geändert