Ein Leben mit Vulvodynie: Wie eine junge Frau an einer seltenen Krankheit verzweifelt Gesundheit | 31.07.2023 | Till Neumann

Vulvodynie Anna hat unerträgliche Schmerzen und kann nachts nicht schlafen. Der Grund: Vulvodynie

Schmerzen, Schmerzen, Schmerzen. Und keine Lösung in Sicht. Die Studentin Anna-Lena Müller (Name geändert) leidet unter “Vulvodynie”. Sie hat also starke Schmerzen an ihrer Vulva. Auf der Suche nach Hilfe schlittert die 22-Jährige von einer Enttäuschung in die nächste. Auch Ärzt·innen können nicht helfen.

Studium und Privatleben werden schwieriger. Jetzt möchte sie ihren Fall mit anderen teilen. Im chilli berichtet Anna von einem schmerzhaften Irrweg.

Nicht mal sitzen ist möglich

Als ich die Diagnose der Vulvodynie bekommen habe, musste ich erstmal googeln. Was ist Vulvodynie? Auf Wikipedia steht, es ist die Bezeichnung für Missempfindungen und Schmerzzustände im Bereich der äußeren, primären Geschlechtsorgane einer Frau, für die oft keine erkennbaren Ursachen gefunden werden können.“

Aber Vulvodynie ist für mich so viel mehr als das: Vulvodynie heißt, nicht sitzen zu können, weil es wehtut. Vulvodynie heißt, auf sehr viel verzichten zu müssen. Vulvodynie heißt, von Arzt zu Arzt zu rennen.

Zehn Ärzt·innen in vier Monaten

Wie viele Frauen, die an Vulvodynie leiden, habe ich über längere Zeit immer wiederkehrende Blasenentzündungen. Sie wurden oft mit Antibiotika behandelt. Beides hat zu einem dauerhaften Stresszustand meiner Vulva geführt – anders gesagt: zu Vulvodynie. Eine Diagnose zu bekommen, war aber eine wahre Odysee. 

Ich wurde insgesamt von cirka zehn verschiedenen Ärzten über vier Monate behandelt, bis ich die richtige Diagnose bekam. Und ich hatte Glück: Viele Frauen kommen erst nach jahrelanger Suche an die richtige Diagnose. (Eine Expertin der Freiburger Uniklinik bestätigt das, siehe Interview)

Der Arzt sagt: Sie sind gesund

Was macht es so schwer, die Krankheit zu diagnostizieren? Da spielen hauptsächlich drei Faktoren eine Rolle: Erstens ist bei Vulvodynie oft keine äußere Ursache erkennbar. In meinem Fall hatte ich Symptome wie bei einer Blasenentzündung, nämlich Harndrang und Schmerzen beim Wasserlassen. Trotz mehrerer Urinproben wurden nie Bakterien oder sonstige Auffälligkeiten gefunden. So begann auch meine Verzweiflung: Was tun, wenn der Arzt sagt, man ist gesund? Was, wenn man unbehandelt weggeschickt wird trotz Schmerzen? 

Zweitens: Viele Menschen (auch Ärzt·innen) kennen diese Krankheit nicht. Je nach Studie sind zwischen fünf bis zehn Prozent der Frauen davon betroffen. Trotzdem ist das gesellschaftliche Bewusstsein dafür gering. Und drittens: Die Diagnose der Vulvodynie erfolgt durch Ausschluss anderer Krankheiten.

Medikamente

Auch Tabletten helfen nicht: Anna verzweifelt immer mehr, weil ihr niemand helfen kann.

Inkontinent mit 22?

Am Anfang bestand bei mir der Verdacht auf eine Blasenentzündung. Als die Symptome trotz Antibiotika blieben und mehr als fünf Urinkulturen keine Klarheit brachten, wurden andere Medikamente ausprobiert. Ich bekam Zäpfchen und alle möglichen Tabletten. Gebracht haben sie nichts. Also beschloss ein Urologe, eine Blasenspiegelung zu machen. Auch die brachte nichts. Wie konnte das sein? Ich war verzweifelt und hoffnungslos.

Der Arzt verschrieb mir neue Medikamente, er vermutete eine Reizblase. Die Medikamente sollten bewirken, dass ich weniger aufs Klo musste. Doch es wurde schlimmer. Ich war zeitweise inkontinent. In dem Moment war mein Leben für mich vorbei. Inkontinent mit 22? Ich hatte Angst, rauszugehen.

Pille absetzen? Treffer

Das Ganze war mir äußerst peinlich. Ich konnte nachts nicht durchschlafen, da ich ein- bis zweimal aufs Klo musste. Einschlafen konnte ich wegen der starken Schmerzen auch kaum.

Damals habe ich noch die Pille genommen. Und mir fiel auf, dass ich an den Tagen der Pillenpause kaum oder gar keine Beschwerden hatte. Also habe ich meine Gynäkologin gefragt, ob der Harndrang von der Pille kommen könnte. Treffer. Also setzte ich sie ab. Relativ schnell konnte ich wieder durchschlafen und gewann die Kontrolle über meine Toilettengänge zurück. Jedoch war der Harndrang nicht weg. Die Suche nach der Ursache begann also wieder von vorne. Und ein neues Symptom kam dazu: Brennen im Bereich der Vulva sowie Schmerzen während und nach dem Geschlechtsverkehr.

Kein Schmerzmittel hilft

Dank dem Tipp einer Freundin bin ich endlich zu der Frauenärztin gekommen, die helfen konnte. Sie hat mir Magnesium verschrieben. Aber was tun mit den Schmerzen? Ich habe immer wieder Ärzte nach Schmerzmitteln gefragt. Die Sache ist kompliziert bei Vulvodynie: Gängige Schmerzmittel wie Paracetamol oder Ibuprofen haben keine Wirkung. Der Grund: Vulvodynie macht die Vulva sensibler. Normalerweise werden Reize gefiltert. Bei der Krankheit ist die Vulva aber schon so oft Schmerzen und Stress ausgesetzt, dass die Nerven daran gewöhnt sind, Reize zu übertragen. So kommen auch die kleinsten zum Gehirn und werden zu Schmerzen – auch wenn sie nicht gefährlich sind. Helfen können Salben und das Antidepressivum Amitriptylin. 

Wie ging es mir damit mental? Nicht gut. Die Krankheit war mit viel Angst verbunden. Und mit Verzweiflung, da keiner helfen konnte. Heute weiß ich: Es gibt nicht die eine Behandlung, die allen Frauen mit Vulvodynie hilft. Man muss unterschiedliche Sachen ausprobieren. Und dabei leidet man, weil kein Schmerzmittel hilft. 

Sonnenuntergang

Ärzt·innen raten Anna: Versuche ein normales Leben zu leben. Das probiert sie – mit Erfolg.

In der psychiatrischen Klinik

Ich hatte das Gefühl, dass mein Leben zu Ende war. Ich habe mit 21 die Krankheit bekommen und ich konnte mich nicht damit abfinden, dass sie mich vielleicht ein Leben lang begleitet. Es gibt Frauen, die Hilfe gefunden haben. Ich kenne aber auch Frauen, die schon 40 Jahre mit den Schmerzen kämpfen. Persönlich habe ich langsam die Hoffnung verloren. Ich habe mehrmals versucht, einen Therapieplatz zu bekommen und wurde auf viele Wartelisten gesetzt. Meine Bemühungen verliefen leider ergebnislos. Ich verlor langsam die Kraft, fühlte mich im Stich gelassen.

Auch Psychotherapeuten konnten mir nicht helfen. Die psychische Belastung war so groß, dass ich darunter mehr gelitten habe als durch die Vulvodynie selbst. Schließlich habe ich diesen Text in einer psychiatrischen Klinik geschrieben.

Versuch: ein normales Leben

Gibt es überhaupt eine Linderung bei Vulvodynie? Die Antwort lautet: ja. Der Weg dahin ist aber anstrengend, belastend und bei jeder Frau unterschiedlich. Generell gilt: Die Ursache der Beschwerden muss man finden und sie behandeln. Das ist wirklich nicht so leicht. Es erfordert viel Kraft und Unterstützung durch Angehörige oder Freunde. Mein persönlicher Weg war es, erstmal die Krankheit zu akzeptieren und zu versuchen, damit zu leben. Im Hier und Jetzt zu bleiben und gute Tage zu genießen. Zusätzlich werde ich in nächster Zeit eine Beckenbodentherapie beim Physiotherapeuten beginnen. Sie gilt als besonders wirksam bei Vulvodynie.

Es wird generell bei chronischen Krankheiten empfohlen, ein normales Leben zu führen: Freunde treffen, Sport machen, rausgehen, anstatt sich zu isolieren und besonders zu schonen. Es geht für mich also darum, einfach so weit wie es geht, so zu leben, als ob die Beschwerden gar nicht da wären. Es ist nicht so leicht, wie es klingt. Aber es lohnt sich.

Es braucht Apps und Therapieplätze

Meine Krankheit hat mich auf viele Schwachstellen im deutschen Gesundheitssystem aufmerksam gemacht. Erstmal ist die Leichtigkeit auffällig, mit der Antibiotika oder die Pille verschrieben werden. Es sollte mehr Aufklärung darüber geben, welche Auswirkungen die wiederkehrende Einnahme von Antibiotika hat beziehungsweise welche Alternativen es dafür gibt. Es sollten ebenfalls die Nebenwirkungen der Pille weiter erforscht werden und ebenso mehr darüber aufgeklärt werden. 

Weiterhin muss Vulvodynie nicht nur besser erforscht werden, sondern mehr Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit bekommen, damit auch Ärzte, Forschung und der Staat sich stärker dafür interessieren. Und schließlich die große Schwachstelle: Es müssen mehr Therapieplätze geschaffen beziehungsweise alternative Therapiemethoden angeboten werden. Zum Beispiel digitale Therapien oder Unterstützung durch Apps.

Ein Funke Hoffnung

Mir geholfen haben auch Facebook-Gruppen. Dort können sich Betroffene vernetzen und austauschen. Mein Eindruck ist: Es gibt mittlerweile mehr Forschung zu Vulvodynie. Und damit eine Aussicht auf Verbesserung. Ich hoffe, dass das auch mir helfen wird.

Fotos: © pixabay

„Langer Prozess bis zur Diagnose“: Expertin zu Vulvodynie und falschen Therapien