Kann das weg? – Von der immer lauter werdenden Kritik am Bürokratie-Irrsinn Gesellschaft | 17.11.2024 | Lars Bargmann
Wie es um die Bürokratie bestellt ist, zeigte unlängst etwa der 2. Oktober. Um kurz nach neun Uhr morgens meldete die Industrie- und Handelskammer Südlicher Oberrhein, dass das „gestoppte Gleichbehandlungsgesetz“ durch Ministerpräsident Winfried Kretschmann bei der IHK für Erleichterung sorge. Hauptgeschäftsführer Dieter Salomon lobte die „umsichtige Entscheidung im Sinne des Bürokratieabbaus“. Sieben Stunden später hieß es in der nächsten Pressemitteilung: IHK reagiert besorgt auf Uneinigkeit in der Landesregierung. Salomon warnt vor „bürokratischem Overkill für die Wirtschaft“.
Was war passiert? Am Vorabend hatte es die Meldung gegeben, dass Kretschmann das geplante Gesetz stoppen wird. Salomon, sowohl IHK-Chef als auch Vorsitzender des Normenkontroll-
rates Baden-Württemberg, hatte das Vorhaben schon lange kritisiert. Auch viele Unternehmen und Kommunen hatten vor einem neuen Bürokratieungetüm gewarnt. „Es ehrt Winfried Kretschmann, dass er hingehört hat und diese umsichtige Entscheidung im Sinne des Bürokratieabbaus traf“, ließ sich Salomon zunächst zitieren. Ein paar Stunden später berichteten Medien, dass das Staatsminis-
terium am Gesetzesvorhaben festhalten will. „Für die Wirtschaft wäre diese Entscheidung fatal“, musste Salomon nun kommentieren.
Die Ziele des Gleichbehandlungsgesetzes sollen „wirksam und unbürokratisch“ erreicht werden, hieß es sodann aus Stuttgart. „Mir fehlt offen gestanden die Fantasie, wie ein solches Machwerk wie das Gleichbehandlungsgesetz unbürokratisch in die Praxis umgesetzt werden soll“, so Salomon. Aus Sicht des Normenkontrollrates und im Interesse der Wirtschaft könne er nur appellieren, auf die Einführung zu verzichten. Gerade in Zeiten, in denen die Unternehmen ohnehin an vielen Fronten zu kämpfen haben. In einer IHK-Umfrage im Sommer hatten schon zwei Drittel der teilnehmenden Unternehmen angegeben, aufgrund der vielen Vorschriften und zähen Prozesse ihr weiteres Engagement in Deutschland zu überdenken.
In einer aktuellen Studie des Ifo-Instituts beklagen gut 90 Prozent der teilnehmenden 1736 Unternehmen, dass die Bürokratie seit 2022 weiter zugenommen hat. Fast die Hälfte (46 Prozent) gab an, in den vergangenen zwei Jahren geplante Investitionen wegen Verwaltungshürden nicht getätigt zu haben. Fast jeder fünfte Betrieb (18 Prozent) teilte mit, deswegen im Ausland zu investieren.
Bei den großen Firmen sieht es für den Standort Deutschland noch deutlich schlechter aus: 57 der größten deutschen Familienunternehmen mit 403.000 Beschäftigten und 90 Milliarden Euro Umsatz haben bei der Befragung mitgemacht. Von ihnen befassen sich – laut eigenen Angaben – fast 43 Prozent mit Verlagerungen ins Ausland. Die Stiftung Familienunternehmen war Auftraggeber der Studie. Ob die Antworten in solchen Umfragen auch in reale unternehmerische Handlungen münden, war und ist kaum nachzuvollziehen.
Das Aufbegehren gegen die überbordende Bürokratie ist es indes schon. 2015 gab es in Bundesgesetzen insgesamt rund 44.500 Einzelnormen. Anfang dieses Jahres waren es knapp 52.500. Von wegen One-in-one-out. Dazu gibt es dann noch EU-Normen, Landes- und Kommunalverordnungen. Das neue Schwarzbuch des Bunds der Steuerzahler listet 100 Fälle von Bürokratie-Irrsinn auf. Nur ein paar Beispiele: Im baden-württembergischen Eberbach hat das Rathaus im November 2023 für 3000 Euro einen Zebrastreifen entfernt, weil der zu nah an einer Bushaltestelle lag. Den Zebrastreifen gab es schon seit 13 Jahren. Es ist zwar seither nichts passiert, der Streifen musste trotzdem weg. Im hessischen Biedenkopf muss ein Drei-Meter-Sprungturm in einem Freibad abgebaut werden. Der Turm steht da seit 30 Jahren. Aber jetzt fiel irgendjemandem auf, dass das Becken nur 3,45 Meter tief ist. Viel zu gefährlich! Der Turm muss weg. Das Becken müsste tiefer sein. Wie tief? 3,50 Meter.
Wenn sich im 31. Jahr plötzlich jemand verletzt, wäre die Kommune haftbar. Eine minimale Normabweichung würde helfen. Aber: Die gibt es in Deutschland nicht. Die Gemeinde Nörvenich (NRW) musste wegen bürokratischer Vorgaben einen Lärmaktionsplan aufstellen. Für 6000 Euro. Allein: Dort, wo der Lärmaktionsplan greifen soll, fehlen die Anwohner, die überhaupt von Lärm betroffen sein könnten.
In Naumburg (Sachsen-Anhalt) rissen Bauarbeiter eine völlig intakte Straße auf, um sie zu begradigen. Kosten: 500.000 Euro. Nach Fertigstellung war die S-Kurve allerdings immer noch eine S-Kurve. Von der Straße auf die Ostsee: Für den Fährverkehr im Küstendorf Missunde (Schleswig-Holstein) wurde eine vier Millionen Euro teure Solarfähre gebaut. Sie sieht auch schick aus, hat nur einen Makel: Sie kann nicht eingesetzt werden, weil sie bei Wind wohl nicht sicher anlegen kann.
Im Stapelfelder Moor bei Hamburg wurde für 27.000 Euro eine Holzplattform gebaut, damit die Besucher besser die Moorlandschaft überblicken können. Die Plattform steht 1,5 Meter über dem Boden. Das sorgt nicht für großartige Übersicht, sondern ist eher eine übersichtliche Höhe. Im Hamburger Stadtteil Eißendorf wurde ein Radweg normgerecht verbreitert und mit schönen roten Pflastersteinen belegt – und als er fertig war, direkt gesperrt. Weil erst dann auffiel, dass der direkt benachbarte Fußweg – nach einer anderen Norm – zu schmal war.
Das Schwarzbuch, in diesem Jahr unter dem Schwerpunkt Bürokratie gefertigt, ist alljährlich ein Kompendium bizarrer Vorkommnisse. „Jahr für Jahr versickern Milliarden Euro Steuergeld durch die wuchernde Bürokratie, mit oft nur fragwürdigem Nutzen oder gar echtem wirtschaftlichen Schaden“, heißt es in dem Bericht. Reiner Holznagel, Präsident des Steuerzahlerbunds: „Wir müssen immer wieder feststellen, dass oft gesunder Menschenverstand durch bürokratische Regeln ersetzt wird.“
Der Nachrichtenagentur dpa sagte Holznagel, dass die seit 2015 geltende „One-in-one-out“-Regel nicht ausreiche. Er fordert vielmehr eine „One-in-two-out“-Regel. Weniger Bürokratie werde die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit steigern und das Vertrauen der Bürger in den Rechtsstaat und die Demokratie stärken.
Justizminister Marco Buschmann hatte bereits im April auf EU-Ebene gefordert: „‚One in, two out‘, muss endlich gelten und zwar ohne Ausnahme und Flexibilitäten. Wirtschaftspolitisch relevante EU-Rechts-
akte sollten – wie in den USA – ein Ablaufdatum bekommen.“ Demnach müsse sich die Politik nach Ablauf eines bestimmten Zeitraums zwangsläufig wieder mit einem Gesetz befassen, damit ein schlechtes oder sehr bürokratisches Gesetz nicht unkontrolliert weiter gilt.
Von der EU kämen indes zuverlässig neue Schiffsladungen mit neuen Vorschriften. Wegen einer neuen EU-Verordnung für etablierte Medizin-
produkte etwa hat der Freiburger Medizintechniker KLS Martin unlängst 2000 chirurgische Instrumente, die schon lange auf dem Markt sind, aus dem Programm genommen. Es ist einfach zu teuer und kostet viel zu viel Zeit, das alles zu liefern. Anlass für die Verordnung war ein Skandal mit französischen Brustimplantaten. So ist es meistens mit den Regeln: Einer baut Mist, daraus wird eine Regel gegossen, die alle anderen belastet.
Auch der Deutsche Normenkontrollrat hat unlängst seinen Jahresbericht 2024 vorgelegt. Neben verhaltenem Lob gab es auch klare Ansagen. „Deutschland ist und bleibt ein kompliziertes Land, das sich eingemauert hat in eine Vielzahl von Regeln und Verfahren“, so der Vorsitzende Lutz Goebel. Die Bürokratielasten seien „wahnsinnig hoch“. Deswegen steige das Frustrationslevel bis hin zur Geschäftsaufgabe bei Unternehmen. Und die Bevölkerung verlöre das Zutrauen, dass Deutschland seine Herausforderungen pragmatisch lösen kann. Oder kerniger, wie es Handwerkspräsident Jörg Dittrich neulich in einem Gastbeitrag für die Welt am Sonntag formulierte: „Die Illusion der staatlichen Vollkasko-Kontrolle schnürt den Betrieben die Luft zum Atmen ab.“
Auch in Freiburg gab es jetzt wieder einen Fall mit Regelkollaps: Die Familie Himmelsbach wollte auf ihrem denkmalgeschützten Gebäude eine PV-Anlage installieren. Was das Land bei Denkmälern grundsätzlich seit Sommer 2022 ermöglicht hatte. Es dauerte zwei Jahre, bis die Anlage jetzt auf dem Dach war. Ihre ganze Kraft darf sie aber nicht ausspielen: Weil die Familie auch Strom aus Wasserkraft produziert, darf sie nicht noch parallel Sonnenstrom ins Netz einspeisen. Dafür hätte sie einen zweiten Schaltschrank kaufen müssen – für 20.000 Euro. Unwirtschaftlich. Deswegen muss fortan die Solar-Anlage an mindestens 100 Tagen gedrosselt werden.
Beim Arbeitgebertag in Berlin hatte Arbeitgeberpräsident Reiner Dulger an den Kanzler gewandt gesagt, dass von einer Bürokratieentlastung in den Betrieben nichts ankomme. Ein Beispiel sei das Lieferkettengesetz. Und Scholz sagte einfach: „Das kommt weg. Dieses Jahr noch.“ Das Jahr ist bald zu Ende.
Fotos: © Michael Bode, Justizministerium, Michael Hübner