Im Hier und Jetzt: Was Achtsamkeitskurse bewirken können Gesundheit | 13.11.2019 | Stella Schewe

Herbst

Stress bewältigen durch Achtsamkeit – das klingt verheißungsvoll, verlangt aber Einsatz. Welche Techniken hilfreich sind und welche Rolle Rosinen dabei spielen, hat REGIO-Redakteurin Stella Schewe den Freiburger Mediziner Johannes Latzel gefragt.

Lust auf REGIO: Achtsamkeit ist in aller Munde. Freut Sie das oder sehen Sie diesen Trend auch kritisch?

Johannes Latzel: Beides. Kritisch ist, wenn Menschen glauben, Achtsamkeit wäre ein billiges Rezept, wodurch man glücklich wird und alle Probleme lösen kann, ohne selbst etwas dafür zu tun. Der Gründer dieser Bewegung, Jon Kabat-Zinn, sagt: „We are not selling happiness.“ (Wir verkaufen nicht das Glücklichsein.) Man muss etwas dafür tun, sich Zeit nehmen für sich selbst, damit es einem besser geht.

Lust auf REGIO: Was ist mit Achtsamkeit gemeint?

Johannes Latzel: Das Gewahrsein, das entsteht, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Augenblick richten. Das könne wir nur, wenn wir unsere Bewertungen hinter uns lassen und eine offene, freundliche Haltung einnehmen.

Lust auf REGIO: Aber wie kann ich es schaffen, dem Gedankenkarussell zu entkommen?

Johannes Latzel: Diese Gedanken sind ja oft ganz unkonstruktiv und helfen uns gar nicht weiter. Hilfreich ist, die Aufmerksamkeit auf den Atem zu richten, immer wieder neu. So wie man ein Pferd zähmen muss, so können wir auch unseren Verstand zähmen, damit wir in einer harmonischen Beziehung mit ihm sind.

Lust auf REGIO: Lässt sich das trainieren?

Johannes Latzel: Ja, und zwar in MBSR-Kursen, das steht für „Mindfulness based stress reduction“. Dabei werden drei Techniken vermittelt: Erstens einfache Yogaübungen. Zweitens der Bodyscan: Dabei lernt man, den Körper zu spüren, man entwickelt ein besseres Körperbewusstsein – unser Körper gibt uns, wenn wir ihn wahrnehmen, Orientierung im Leben. Das dritte ist eine einfache Atemmeditation.

Lust auf REGIO: Was hat es denn mit der Rosine auf sich, die zu Beginn eines solchen Kurses gegessen wird?

Johannes Latzel: Dabei erfahren die Kursteilnehmer, wie wichtig die sinnliche Wahrnehmung ist: das Riechen, Hören, Schmecken, Fühlen, Sehen. Die sinnliche Wahrnehmung ist der Zugang zu unserer Körpererfahrung, und die Körpererfahrung wiederum ist der Zugang in die Gegenwart.

Johannes Latzel

Der 62-jährige Allgemeinmediziner Johannes Latzel hat sich auf Naturheilkunde, Homoöpathie und Psychotherapie spezialisiert und bietet Achtsamkeitskurse an.

Lust auf REGIO: Welche Rolle spielt die Freundlichkeit dabei?

Johannes Latzel: Die Freundlichkeit ist eine der schönsten Früchte der Achtsamkeit. Wer Achtsamkeit übt, lernt mit der Zeit, sanft und freundlich mit sich umzugehen. Je gegenwärtiger ich in meinem Leben sein kann, umso glücklicher bin ich. Dann kommt die Liebe zu mir selbst und zur Welt.

Lust auf REGIO: Aber nicht alles auf der Welt ist gut. Ich kann doch nicht allem mit Freundlichkeit begegnen.

Johannes Latzel: Wenn ich Achtsamkeit übe, sehe ich noch viel deutlicher, was nicht in Ordnung ist. Das führt dann dazu, dass ich den Mut habe, quer zu denken, auch rebellisch zu sein, mich einsetze gegen Missstände. Freundlichkeit heißt nicht, dass ich zu allem „Ja und Amen“ sage.

Lust auf REGIO: Bin ich nach acht Wochen Kurs dann glücklich und entspannt?

Johannes Latzel: Für viele Kursteilnehmer verändert sich ihr Leben nachhaltig. Allerdings hören auch viele erst mal wieder auf. Aber dann leiden sie doch wieder und wenden sich erneut der Achtsamkeit zu. Wichtig ist die Balance. Auf der einen Seite will ich etwas für meine seelische Gesundheit tun, auf der anderen Seite sollte ich nicht zu streng mit mir sein. Das Schöne ist: Die Achtsamkeit schimpft ja nicht mit einem, wenn man sie vernachlässigt hat, sondern sie sagt: Du kannst immer wieder neu kommen.

Lust auf REGIO: Wer besucht denn Ihre Kurse?

Johannes Latzel: Das ist bunt gemischt, reicht vom Chef der Krankenkasse bis zum Arbeitslosen, vom Unternehmer bis zum Studenten. Es sind alles Menschen, die aktiv etwas für sich tun wollen. Und das Üben der Achtsamkeit geht in Gemeinschaft viel leichter.

Lust auf REGIO: Wie sind Sie selbst zur Achtsamkeit gekommen?

Johannes Latzel: In meiner Studentenzeit befand ich mich in einer großen Krise. Damals hat mir ein Jesuitenpater die Übungen beigebracht, die später Jon Kabat-Zinn auf der Welt verbreitet hat: die Yogaübungen, den Bodyscan und die Atemmeditation. Das hat mir sehr geholfen. Vor etwa zwölf Jahren habe ich mich dann zum Lehrer ausbilden lassen.

Lust auf REGIO: Und wie sieht Ihr achtsamer Alltag aus?

Johannes Latzel: Ich beginne meinen Tag morgens um sechs mit Yogaübungen, einem Bodyscan und einer Sitzmeditation. Das dauert insgesamt eine Stunde und tut mir sehr gut. Da wird mein Nervensystem wie gestimmt, sodass ich dann den Herausforderungen des Tages begegnen kann.

Fotos: © Pixabay, ste