Goldgrube zum Schnäppchenpreis STADTGEPLAUDER | 21.02.2020 | Bernd Serger

Neun Traditionshäuser auf neuen Wegen“ – mit dieser Schlagzeile verkündete die Badische Zeitung im Dezember 2018, dass sich alteingesessene Geschäfte der Freiburger Innenstadt zusammengetan haben, um sich unter dem Logo „Herzschlag“ auch politisch mehr Gehör zu verschaffen. Zu diesen neun Traditionshäusern gehört auch das Freiburger Lederhaus in der Rathausgasse 4. Es dringt erst auf Nachfrage zu seiner jüdischen Vorgeschichte durch.

Das Freiburger Lederhaus wirbt seit Jahren mit dem Slogan „Lieblingsstücke seit 1905“. Wer sich bis Mitte 2019 auf der Website umsah, fand unter „Historie“ Folgendes: „1905: Gründung Freiburger Lederwaren-Haus in der Friedrichstraße 11, 1937: Übernehmen Franz und Elisabeth Schregle das Geschäft“. Mehr zur Gründungsgeschichte war auch auf der im vergangenen November neu gestalteten Homepage nicht zu entdecken. Im Gegenteil, selbst diese „Chronologie“ war jetzt verschwunden. Die chilli-Redaktion verschickte daraufhin die ihr gut bekannte jüdische Vorgeschichte der Firma an die heutige Inhaberin Carolin Niemann und bat um eine Stellungnahme.

Die Reaktion kam prompt: Niemann, Enkelin von Franz Schregle, ließ die Website nochmals überarbeiten. Es sei ihr Fehler gewesen, nicht nachzuprüfen, ob die von ihr im Juli 2019 herausgegebene Pressemitteilung zur Erweiterung des Geschäfts von der Agentur für den neuen Internet-Auftritt auch verarbeitet wurde. Darin sei als Gründer des „Freiburger Lederwaren-Hauses“ im Jahr 1905 Berthold Dreyfuss erwähnt.

Ein Name, mehr nicht. Nun aber findet man auf der aktualisierten Seite Auszüge der der Inhaberin überlassenen Firmengeschichte, die ausdrücklich darauf hinweisen, dass das „Freiburger Lederwaren-Haus“ von 1905 bis 1937 ein jüdisches Geschäft war, das Franz Schregle in der NS-Zeit von Julius und Rosa Hauser übernommen hatte und für das er 1949 in einem Rückerstattungs-Verfahren eine Nachzahlung leisten musste.

Ereignisse, die Niemann bislang wohl wirklich nicht bekannt waren. Wie vieles andere, so die auch tragische Geschichte der jüdischen Vorbesitzer. Bisher interessierte diese Vergangenheit das Freiburger „Traditionshaus“ offensichtlich nicht. Zeit also, diese Lücke zu schließen und an jene jüdischen Menschen zu erinnern, die das „Freiburger Lederwaren-Haus“ zu jener „Goldgrube“ gemacht haben, von der ihr Anwalt 1949 im Rückerstattungs-Verfahren sprach.

 

„Lieblingsstücke seit 1905…“

 

Als das Freiburger Lederhaus 2005 sein 100-jähriges Bestehen feierte, hatte die Firma schon damals eine mindestens 140-jährige Geschichte: Denn die ursprünglichen Gründer waren die Brüder Samson und Samuel Dreyfuss aus Altdorf bei Lahr. Sie gehörten zu den ersten jüdischen Kaufleuten, die sich nach dem 1862 erlassenen „Gesetz über die bürgerliche Gleichstellung der Israeliten im Großherzogtum Baden“ in Freiburg niederlassen konnten. Erstmals erwähnt sind die „Gebrüder Dreyfuß“ als Händler im Adressbuch von 1865. 1867 zogen sie mit ihrem Geschäft von der Salz- in die Schusterstraße 15, wo sie mit ihrer wachsenden Familie fast 40 Jahre lang Handel treiben und wohnen sollten.

Berthold Dreyfuss, 1861 noch in Altdorf geboren und der älteste der vier Söhne von Samson Dreyfuss, trat mit 19 ins elterliche Geschäft ein, wurde 1888 Prokurist, später Teilhaber. Bernhard (später Barney) Dreyfuss, der einzige Sohn von Samuel, war 1883 vor der anstehenden Einberufung zum Militärdienst in die USA geflohen, wo er, wie man bei Wikipedia liest, als „skrupelloser Geschäftsmann“ mit seiner Whiskey-Brennerei steinreich wurde und als Eigentümer des heute noch existierenden Baseball-Clubs Pittsburgh Pirates bis 1932 große Erfolge feierte.

Weil es in der Schusterstraße zu eng geworden war, kaufte Berthold Dreyfuss, seit 1899 alleiniger Inhaber, 1904 für stolze 150.000 Mark an der Friedrichstraße 11 das Gebäude zur Straße und das Hinterhaus. Nach dem Umbau zum „großen modernen Geschäftshaus“ eröffnete er 1905 im Vorderhaus das „Freiburger Lederwaren-Haus“, während sein jüngster Bruder Siegfried (1870–1930) im Hintergebäude weiter den Großhandel betrieb.

Geschickt, auch mit pfiffiger Reklame, lenkte Berthold Dreyfuss sein Geschäft durch schwierige Jahre, durch den Ersten Weltkrieg und die Wirren danach. 1920 traten seine Frau Helene Lina (geb. Weil) und sein jüdischer Schwiegersohn Julius Max Hauser, geboren 1890 in Endingen, als persönlich haftende Gesellschafter in die Firma ein. Julius Hauser war, zuvor als Vertreter in Fernost tätig, 1919 aus einem Internierungslager in Australien zurückgekommen und hatte im Sommer 1920 Rosa „Rosel“ Dreyfuss, die damals 23-jährige Tochter von Berthold, geheiratet.

Julius und Rosa Hauser bei ihrer Hochzeit 1920.

Am 20. Mai 1923 starb Berthold Dreyfuss mit 62 Jahren. Die nicht eben judenfreundliche „Freiburger Zeitung“ pries ihn in einem Nachruf „ob seiner vorzüglichen menschlichen Eigenschaften“ als „glühenden Patrioten“ und bescheidenen, großzügigen Wohltäter, der „unzähligen Armen und Notleidenden zur Seite gestanden hat“. Nun lag es an Julius Max Hauser und der Witwe, das Geschäft durch die Inflationszeit zu bringen, wobei die Leitung Rosel Hauser übernahm. Sie, die in Berlin eine kaufmännische Ausbildung genossen hatte, war – wie auch etliche Zeugen später im Wiedergutmachungs-Verfahren bestätigten – die „Seele des Betriebs“.

1931 wurde Julius Hauser Alleininhaber des „Freiburger Lederwaren-Hauses“, Lina Dreyfuss und Rosa Hauser erhielten Prokura – bis 1933 die NSDAP auch in Freiburg zum Boykott jüdischer Geschäfte aufrief und am 1. April SA-Männer vor dem Geschäft postierte, die die Kunden vom Einkauf zurückhielten. Lina Dreyfuss ergriff die Panik. Sie wollte, einen Packen Geld um den Körper gebunden, in die Schweiz fliehen, wurde durchsucht – und entging der Verhaftung, indem sie sich im Juni 1933 im Rhein bei Basel ertränkte.

Das Freiburger Lederwarenhaus.

„Wenn’s Judenblut vom Messer spritzt“ – als die SA-Trupps mit Hassgesängen dieser Art vor dem Geschäft vorbeimarschierten, sackte Rosel Hauser kreidebleich auf dem Stuhl zusammen. Ihre anhaltende Angst bewegte Julius Hauser dazu, Ende 1936 alles zu verkaufen, um dieses feindliche Land zu verlassen. Häuser und Grundstück gingen für 66.000 Mark an Albert Kohler aus Berlin, das „Freiburger Lederwaren-Haus“ für 23.000 Mark an Franz Schregle.

Dies auf Grundlage von Gutachten auswärtiger Fachleute, auf die sich Hauser und Schregle geeinigt hatten. Ein Schnäppchen, da Schregle etwa für die erst kurz zuvor für 30.000 Mark angeschaffte Ladeneinrichtung nichts bezahlen musste. Rosa Hauser arbeitete den fachfremden Käufer (Schregle war vorher bei Schafferer angestellt) noch ins Geschäft ein, ehe sie mit ihrem Mann im Mai 1937 per Schiff in die USA flüchtete.

Das gute Einvernehmen mit Schregle endete 1949, als Julius Hauser von New York aus Klage auf Rückerstattung des „Freiburger Lederwaren-Haus“ erhob. Schregle und sein Anwalt hielten dagegen mit dem bemerkenswerten Argument, das Ehepaar sei gar nicht wegen der Judenverfolgung geflohen, sondern aus Angst vor einem Krieg. Dies sei aber kein gesetzlicher Grund für eine Rückerstattung.

Weiter führten sie an, beim Luftangriff am 27. November 1944 seien mit dem Gebäude in der Friedrichstraße 11 auch das Geschäft, seine Einrichtung und das Warenlager komplett zerstört worden. Es gäbe also nichts zurückzuerstatten. Das nach 1945 aus Provisorien in der Schwabentorstraße und ab 1949 in der Rathausgasse errichtete Geschäft sei allein dem Fleiß von Schregle und seiner Frau zu verdanken. Bis dann doch herauskam, dass Schregle vor dem Bombenangriff einen großen Teil des Warenlagers in seinem Haus außerhalb von Freiburg deponiert und selbst 1945 noch namhafte Gewinne gemacht hatte.

Ende März 1950 setzte die Restitutionskammer des Landgerichts Freiburg einen Vergleich durch, der Schregle dazu verpflichtete, auf den vom Gericht als nicht angemessen erkannten Kaufpreis von 1937 eine Nachzahlung von 7.000 DM zu bezahlen. Dafür durfte er das Geschäft behalten und weiterhin den Firmennamen „Freiburger Lederwaren-Haus“ nutzen.

Dasselbe Gericht hielt Jahre später jedoch auch diese Nachzahlung für zu gering, was Julius Hauser immerhin zu einer höheren Entschädigung in seinen Wiedergutmachungs-Verfahren verhalf. Er und seine Frau Rosel konnten das Geld sehr gut gebrauchen, da sie in den USA von Anfang an viel Pech hatten. Sie scheiterten mit einem Lederwarengeschäft in Cincinnati und einem Boardinghouse in New York, danach blieben nur harte Fabrikarbeit, Handlangerdienste und Einkünfte unterm Existenzminimum. Rosel Hauser wurde krank und starb im Mai 1960 mit 63 Jahren.

 

Warum Lina Dreyfuss sich im Rhein ertränkte

 

Sie hatte sehr darunter gelitten, dass es ihnen nicht gelungen war, Siegfried Hauser, den jüngeren Bruder von Julius, und dessen Frau Lina, die am 22. Oktober 1940 von Freiburg ins Lager Gurs in Südfrankreich deportiert worden waren, vor dem Holocaust zu bewahren. Als die wohlhabenden Verwandten in den USA auf ihre Appelle endlich reagierten, war es zu spät: Siegfried und Lina Hauser wurden am 10. August 1942 in Auschwitz ermordet.

Nach dem Tod seiner Frau hielt es Julius Hauser nicht mehr in den USA. Er kehrte im Sommer 1960 nach Europa zurück – aber nicht nach Deutschland. Er zog in ein jüdisches Altersheim in Riehen bei Basel, wenige hundert Meter von der Grenze entfernt, wo er im April 1967 mit 76 Jahren starb. Fast bis zuletzt musste er wie zuvor auch seine Frau mit dem Landesamt für Wiedergutmachung um die ihnen zustehende Entschädigung kämpfen – ihre Behandlung war ein weiteres Beispiel dafür, wie gnadenlos diese Behörde, in der auch Finanzbeamte aus der NS-Zeit arbeiteten, das Leiden der verfolgten jüdischen Menschen verlängerte.

Die Dokumentation zur Geschichte finden Sie hier: bit.ly/2v2PfWW

 

Fotos: © bar; Günter Wirth: Die Hauser-Chronik; Anzeige: 19.12.1912 in „Freiburger Zeitung“