Heimspiel: Ernst Rapp wird „Mehrmals gerettet“ STADTGEPLAUDER | 11.11.2020 | Erika Weisser

Ernst Rapp

Ernst Rapp war vier Jahre alt, als er am 22. Oktober 1940 mit den Eltern und der Großmutter in einen der Züge stieg, die mehr als 6500 Jüdinnen und Juden aus Baden, der Pfalz und dem Saarland ins südfranzösische Internierungslager Gurs brachten. Dort wurden die Familien getrennt; er kam mit der Mutter Tilly ins Frauenlager, der Vater Fritz musste allein ins Männerlager. Das Kind wurde gerettet, seine Eltern nicht. 2008 kehrte Ernst Rapp nach Deutschland zurück, seither wohnt der 84-Jährige in Freiburg.

„Von der Deportation und der ersten Zeit im Lager kann ich nichts erzählen, da war ich zu klein. Doch ich weiß noch, dass die Suppe in Gurs so dünn war, so ganz anders als zu Hause. Und ich glaube mich zu erinnern, dass wir manchmal von unserem Zaun aus meinem Vater zuwinkten, der am Zaun stand, der die Männerbaracken umgab. Da ist so ein Bild in meinem Kopf, das auftauchte, als ich gegen Ende meines Arbeitslebens begann, mich intensiver mit den Details jener Epoche und mit meiner Kindheitsgeschichte zu beschäftigen.

Es kann sein, dass diese persönliche Erinnerung durch die Rekonstruktion der historischen Ereignisse befördert wurde. Das hängt ja oft zusammen, lässt sich nicht immer exakt trennen. Doch es gab diese Begegnungen, da bin ich ganz sicher. Und eine war dann die letzte. Da war ich fünfeinhalb Jahre alt. Am 10. November 1941 übergab meine Mutter mich nämlich einer Frau vom Kinderrettungswerk OSE (Œuvre de secours aux enfants, d.R.). Und diese brachte mich in das jüdische Kinderheim im Château de Chabannes in Zentralfrankreich. Ich habe beide nie wieder gesehen.

Das wusste ich damals natürlich nicht. Und ich weiß bis heute nicht, wie meine Eltern insgeheim meine Rettung organisierten. Ich habe nur eine Vermutung: Nach dem Tod meiner Großmutter im Winter 1940 wurde ich so krank, dass ich für mehrere Wochen in das Armenspital von Pau musste. Und meine Mutter hatte die Erlaubnis, bei mir zu sein. Dort bot ihr eine Krankenschwester an, uns zu verstecken. Doch sie wollte ihren Mann nicht im Stich lassen und kehrte nach meiner Genesung mit mir ins Lager zurück. Ich nehme jedoch an, dass diese Krankenschwester Kontakt zur OSE aufnahm.

Als ich meine Familie, mein altes Leben hinter mir lassen musste, tat ich das auch mit der Sprache. Am Tag meiner Abreise aus Gurs habe ich das letzte Wort Deutsch gesprochen. Und habe es erst wieder gelernt, als meine Frau Rosa und ich beschlossen, uns in Freiburg niederzulassen. Doch zunächst war Französisch die Sprache meines neuen Lebens – im Château, das gleichzeitig Schule war, und danach bei der Bauernfamilie, die mich während der beiden letzten Kriegsjahre bei sich versteckte.

Leider musste ich nach der Befreiung auch von dieser Familie Abschied nehmen. Obwohl ich sehr viel weinte, kam ich wieder in ein Kinderheim, in Toulouse. Dort blieb ich, bis meine zehn Jahre ältere Schwester Margot mich ausfindig machte und 1949 zu sich nach Tel Aviv holte. Sie lebte ja schon seit 1939 bei Verwandten in Palästina. Bei ihr fand ich die liebevollen Briefe unserer Mutter, die sie im Lager an uns alle geschrieben und ihr geschickt hatte.  Inzwischen kann ich sie im Original lesen. Darüber bin ich sehr froh, denn so bin ich meinen Eltern nahe.

Anders als sie hatte ich viel Glück im Leben. Ich wurde mehrmals gerettet, konnte studieren, arbeitete in Frankreich, Mexiko und Israel als Ingenieur im U-Bahn-Bau. Und ich konnte alt werden, meine drei Kinder und sieben Enkel aufwachsen sehen. Sie leben in Israel.“

Foto: © ewei