Heimspiel: „Manchmal wie betäubt“ STADTGEPLAUDER | 15.02.2021 | Christian Engel

Am Schreibtisch sitzen, Kommilitonen untersuchen, Klausuren kreuzen: Das sind die Dinge, die der Freiburger Medizinstudent ­Jonathan Vogt in den vergangenen sieben Semestern hauptsächlich getan hat. Daher wollte er endlich mal in die Praxis eintauchen, vor allem: hinaus aus seiner Komfortzone, hinein in die Arbeit mit Notleidenden. Mit „Medical Volunteers International“ flog der 23-Jährige für sechs Wochen nach Athen, ­behandelte ­Geflüchtete und Obdachlose – und lernte, was einen guten Arzt ausmacht.

„Für mich ist es ein Privileg, Medizin zu studieren und später Menschen helfen zu können. Ein cooler Teil des Studiums ist es, die Zeit zu haben, sich Hilfsorganisationen anzuschließen, in der Seenotrettung mitzuarbeiten oder in der medizinischen und humanitären Erstversorgung an Fluchtrouten. Über meine Schwester Amelie, die in der Flüchtlingshilfe in Leipzig aktiv ist, bin ich auf Medical Volunteers International gestoßen. Der Verein aus Hamburg leistet medizinische Versorgung für notleidende Menschen in verschiedenen Einsatzorten. Unter anderem in Athen. Da landete ich dann diesen Winter für sechs Wochen.

In den Randgebieten der Stadt leben zahlreiche Menschen in Flüchtlingscamps. Nach dem Corona-Lockdown mit strengen Ausgangsbeschränkungen durften wir nicht mehr in die Camps hinein, also kamen die Menschen zu uns. Via Whatsapp nahmen Geflüchtete und Obdachlose Kontakt mit uns auf. Teilweise mussten wir als Ärzteteam mit Hilfe von Google-Translator herausfinden, welche Symptome sie hatten. Bei schweren Fällen konnten wir die Notleidenden in ein Krankenhaus überweisen. Bei akuten Fällen luden wir sie zur Sprechstunde ein.

Unsere Klinik war ein Provisorium. Dort war nur ein Behandlungstisch, in einem Raum saßen die Patienten quasi an einem Ess­tisch. Wir hatten nur die nötigsten Instrumente zur Verfügung, aber das hat in den meisten Fällen ausgereicht. Häufig kamen Menschen mit Hauterkrankungen zu uns, aufgrund schlechter Hygienebedingungen. Ansonsten die üblichen Beschwerden: leichte bis schwere Infekte, Schwindel, Darmerkrankungen. Wir verabreichten Medikamente, legten Verbände, ich übernahm irgendwann die Sehtests, wohl weil mir eine befreundete Optikerin 30 Brillen mitgegeben hatte.

Die Patienten waren dankbar, aber zum Teil merkte man ihnen die Aussichtslosigkeit an. Jetzt hatte ihnen wieder jemand von einer NGO geholfen, aber an ihrer Gesamtsituation änderte sich nichts. Manchmal fühlte ich mich wie betäubt, hielt meine Tätigkeit für sinnlos, ein Minitropfen auf einen heißen Stein. Aber dennoch erkannte ich immer wieder, wie schnell man als Arzt zumindest ein körperliches Leiden lindern und für den Moment helfen kann. Und bis heute denke ich an einzelne Menschen und ihre zum Teil grausamen Schicksale von Krieg und Flucht – und hoffe, dass es für sie einen Ausweg aus den Lagern gibt.

Sechs Wochen war ich dort – und ich glaube, ich habe in der Zeit mehr gelernt als in den dreieinhalb Jahren Studium. Vor allem, wie man sich als Arzt gegenüber Patienten verhält, wie man auf sie eingehen muss, ohne sich dabei emotional zu verlieren – und weiterhin professionell agiert. Ich würde sofort wieder in einem solchen Projekt mitarbeiten und werde es wieder tun. Aber erst mal muss ich für ein paar Semester zurück an den Schreibtisch: ­büffeln und kreuzen.“

Foto: © Christian Engel