Herkulesaufgabe Flüchtlingsversorgung: Interview mit Ulrich von Kirchbach STADTGEPLAUDER | 03.01.2016 | Lars Bargmann und Tanja Senn

Für Freiburgs Kultur- und Sozialbürgermeister Ulrich von Kirchbach war das vergangene Jahr eines, in dem die Flüchtlingswelle übers Sozialdezernat rollte. Zu 80 Prozent war der 59-Jährige mit Migranten beschäftigt. Aktuell kommen jeden Monat 350 neue Flüchtlinge in Freiburg an. Seit November rechnet das Land der Stadt die BEA (Bedarfsorientierte Erstaufnahmestelle) in der Lörracher Straße an, wodurch etwa 75 Flüchtlinge weniger nach Freiburg zugeteilt werden, als es nach dem Königsteiner Schlüssel rechnerisch wären. Die Flüchtlingsversorgung bleibt aber die Herkulesaufgabe in Kirchbachs Büro, wie er den chilli-Redakteuren Lars Bargmann und Tanja Bruckert erzählte.

Die Stadthalle entwickelt sich zur Allzweckwaffe: Erst fand die Uni hier Platz für Bücher, nun das Rathaus Raum für 400 Flüchtlinge. Für mindestens zwei Jahre. Insgesamt gibt es jetzt rund 1000 Plätze in Notunterkünften.

chilli: Herr von Kirchbach, Ende des Jahres werden mehr als 3000 Flüchtlinge in Freiburg leben. Wenn es so weitergeht, kommen allein 2016 weitere 3500 dazu. Wann ist die Grenze der Zumutbarkeit für Freiburg erreicht?
Ulrich von Kirchbach: Wenn wir massiv Sporthallen für die Unterbringung nutzen würden, wäre das sicher nicht gut für die Stimmung. Das A und O ist eine gute Integrationsarbeit. Die können wir bei viel Anstrengung gewährleisten. Wenn aber die Zahlen noch höher wären, wäre es mit der Integration ungleich schwerer. Unsere Hilfesysteme im sozialen Bereich sind heute schon sehr gut ausgelastet.

chilli: Auf der europäischen Bühne herrscht große Uneinigkeit, wie das Thema angepackt werden soll. Wenn Freiburg bis 2020 jedes Jahr 3500 Flüchtlinge aufnehmen müsste … von Kirchbach: Jetzt Zahlen hochzurechnen, wäre unseriös. Richtig ist, dass gesamteuropäische Antworten gegeben werden müssen. Uns beschäftigt mit großer Sorge, dass man nicht weiß, ob Europa weiter auseinanderdriftet. Da sind in der Vergangenheit Fehler gemacht worden, denn als klar war, dass es eine große Flüchtlingsbewegung Richtung Europa geben wird, hat man nicht die adäquate Energie und Zeit aufgewendet, um die richtigen Antworten zu finden. Aber wir als Kommune haben einfach die Verantwortung, den Menschen gerecht zu werden.

chilli: Wenn Sie entscheiden könnten: Würden sie immer mehr Länder zu sicheren Herkunftsländern erklären?
von Kirchbach: Wenn Länder in der Europäischen Union oder auch Anwärter sind, kann man nicht sagen, dass diese per se unsicher sind. Vielen Menschen in Südosteuropa geht es wirtschaftlich nicht gut. Es gibt auch Diskriminierungen von Minderheiten. Da muss die EU Druck machen und klarmachen, dass für Länder, in denen Menschen diskriminiert werden, kein Platz in der EU ist. Aus meiner Sicht müsste man die EU weiterentwickeln. Wenn man sich als Wertegemeinschaft versteht, muss man die Herausforderung gesamteuropäisch annehmen. Im Moment hat man den Eindruck, dass viele Länder nur versuchen, Vorteile aus der EU zu ziehen. Aber wenn es hart auf hart kommt, sollen andere die Aufgaben übernehmen.

chilli: Der schwarze Kontinent hat sich noch gar nicht richtig in Bewegung gesetzt. Da könnte noch eine ganz andere Aufgabe auf Europa zukommen …
von Kirchbach: Wir haben viel zu lange weggeschaut und uns eingerichtet in angeblich sicheren Außengrenzen. Deswegen ist es umso wichtiger, dass wir eine Politik machen, die ermöglicht, dass diese Menschen in ihren Ländern bleiben können. Wir können nicht große Teile der Weltbevölkerung in Europa versammeln.

chilli: Für die Kommunen geht es dabei um deutlich mehr als nur um die Unterbringung.
von Kirchbach: Vorläufige Unterbringungen findet man immer, wenn der politische Wille da ist. Die größere Aufgabe ist die Folgeunterbringung in Wohnungen. Dazu kommt noch die Integration. Das schaffen wir als Verwaltung nicht allein. Dazu braucht es das Ehrenamt, die ganze Stadtgesellschaft. Wir wollen kein Nebeneinander, sondern ein Miteinander.

chilli: In Freiburg fehlen auch ohne die Flüchtlinge schon Tausende von Wohnungen …
von Kirchbach: Genau deswegen bereitet mir die Folge- unterbringung so große Bauchschmerzen. Wir brauchen sicher neben dem großen geplanten Stadtteil viele weitere kleine Wohnbauflächen, um die Defizite nicht noch weiter zu vergrößern. Da müssen wir schneller werden.

chilli: Bis das Dietenbachgelände kommt, vergehen sieben Jahre …
von Kirchbach: Darauf können wir nicht warten. Wir müs- sen die soziale Balance im Blick haben. Deshalb ist es richtig und wichtig, jetzt aus dem Perspektivplan die fünf vorgeschlagenen Flächen (Längenloh in Zähringen, Wendeschleife Vauban, Kappler Straße, Sundgauallee Ecke Bissierstraße sowie Padua- und Granadaallee, d. Red.) vorab zu entwickeln.

chilli: Es sind nicht nur die Flüchtlinge. Die Freiburger Uni hat dieses Semester so viele Studierende wie nie zuvor, auch die suchen bezahlbare Wohnungen.
von Kirchbach: Wir dürfen nicht eine Gruppe gegen die andere ausspielen. Das Studierendenwerk hat seine Kapazitäten in den vergangenen Jahren deutlich erhöht. Studierende können sich meist besser helfen als Flüchtlinge. Das Studierendenwerk sollte das Angebot weiter ausbauen. Aber wir müssen auch mehr gegen die steigende Wohnungslosigkeit tun. Die Sozialpolitik hat keinen Stillstand, auch wenn wir uns jetzt intensiv um Flüchtlinge kümmern.

chilli: Wäre der Flugplatz eine Fläche für Wohnungsbau?
von Kirchbach: Wir sollten uns auf die Dinge konzentrieren, die realisierbar sind. Da ist der Perspektivplan ein guter Auftakt. Wir müssen schnell städtische Flächen realisieren.

chilli: Solche gibt es auf dem Gewerbegebiet Haid Süd oder auch auf dem Güterbahnhofgelände …
von Kirchbach: Wir müssen auf der einen Seite kurzfristig Kapazitäten für Flüchtlingswohnheime schaffen. Das andere muss man im Gesamtzusammenhang entwickeln. Ob da der Güterbahnhof eine geeignete Fläche ist, ist fraglich.

chilli: Nach unseren Informationen hat die Stadt gerade 1000 Container geordert. Wo sollen die aufgestellt werden?
von Kirchbach: Wir haben so viele reserviert. Wir bestellen aber peu à peu. Ein Wohnheim in Hochdorf wird im März fertiggestellt, dann kommt Zähringen, der Kappler Knoten, und dann wird es noch eine größere Unterkunft für bis zu 300 Menschen auf einem Grundstück der Stiftungsverwaltung an der Merzhauser Straße geben.

chilli: Gleichzeitig werden Notunterkünfte gebaut. Etwa auf dem Mundenhof. Ist das ZMF gefährdet?
von Kirchbach: Definitiv nicht. Wenn das ZMF losgeht, sind die Zelte entweder überflüssig oder wir bringen sie woanders hin. Wir haben Alternativen.

chilli: In diesen Tagen wird zudem die Stadthalle als Notunterkunft bezogen. Für wie lange?
von Kirchbach: Die werden wir sicher die nächsten zwei Jahre brauchen. Wir haben dort rund drei Millionen Euro investiert. Das ist für bis zu 400 Menschen erst einmal eine adäquate Unterbringung.

chilli: Haben sich die Anschläge in Paris auf die Stimmungslage ausgewirkt?
von Kirchbach: In allen Veranstaltungen haben die, die die Flüchtlinge unterstützen, nach wie vor deutlich die Mehrheit. Es gibt immer wieder vereinzelt andere Aussagen, aber da hat man die Möglichkeit, auf Unsinn, Vorurteile oder falsche Infos einzugehen.

chilli: In Zähringen sah das neulich nicht so harmonisch aus …
von Kirchbach: Das lief nicht so gut, weil die Diskussion um ein neues Flüchtlingswohnheim mit der Bauvoranfrage für eine Moschee verrührt wurde. Es gab auch verwaltungsintern Kommunikationsdefizite. Aber es ist zynisch, diejenigen, die vor dem Terror und dem so genannten Islamischen Staat fliehen, mit denjenigen, vor denen sie fliehen, in einen Topf zu werfen.

chilli: Der Erfolg der Integration entscheidet sich am Arbeitsmarkt.
von Kirchbach: Ich glaube, dass Zuwanderung in vielen Bereichen eine Bereicherung sein kann, etwa beim Fachkräftemangel …

chilli: … bis ein Flüchtling in einem metallverarbeitenden Betrieb vollwertig arbeiten kann, werden Jahre vergehen …
von Kirchbach: Das mag sein, aber wir wollen mit der Arbeitsagentur in die Wohnheime gehen und eine Kompetenzanalyse machen. Viele Unternehmer suchen Azubis und bieten Schnupperkurse. Das A und O ist die Sprache.

chilli: Warum gibt es nicht mehr Sprachkurse?
von Kirchbach: Wir werden versuchen, dass wir fast alle Flüchtlinge zumindest in Grundsprachkurse reinbringen. Wir werden keinen zwingen, aber die meisten wollen lernen. Wir haben aber das Problem, dass in der Zeit die Kinderbetreuung oft nicht geregelt ist. Auch da müssen wir uns verbessern. Natürlich geht’s nicht von heute auf morgen in den ersten Arbeitsmarkt. Ich glaube aber, dass wir etwa im Pflegebereich großes Potential haben.

chilli: Für eine Ausbildung in der Pflege braucht man ein Schulzeugnis. Kaum ein Flüchtling hat das dabei …
von Kirchbach: Wenn Sprachkenntnisse und intellektuelle Voraussetzungen da sind, kann man zumindest Pflegehilfskraft werden. Wir müssen lernen, in Deutschland nicht nur nach den Papieren und Zeugnissen zu schauen, sondern auch danach, was die Leute ganz praktisch können.

chilli: Die Stadt selber ist ein Konzern und an fast 40 Unternehmen beteiligt. Wie sieht es da mit der Ausbildung und Anstellung von Flüchtlingen aus?
Von Kirchbach: Wir achten bereits da- rauf, dass wir bei neuen Stellen Menschen finden, die Zuwanderungsgeschichten haben. Wir haben auch die Freiburger Qualifizierungs- und Beschäftigungsgesellschaft, die in zwei Wohnheimen die Essensausgabe mit Flüchtlingen macht …

chilli: … gemeinnützig …
von Kirchbach: … erst einmal gemeinnützig. Aber viele kriegen darüber Sprachkenntnisse. Aber wenn ich einen Verwaltungsfachangestellten fürs Asylbewerberleistungsgesetz brauche, ist die Trefferquote bei den Flüchtlingen wahrscheinlich nicht so hoch.

chilli: Die Flüchtlingsversorgung kostet die Stadt in diesem und im kommenden Jahr stolze 70 bis 75 Millionen Euro. Eine Belastung für den Haushalt?
von Kirchbach: Nein. Die Mehrausgaben sind über Zuschüsse gedeckt.

chilli: Auch die 8,4 Millionen Euro jährlich, die für rund 200 neue Stellen in der Flüchtlingsversorgung aufgewendet werden müssen?
von Kirchbach: Ja. Selbst wenn die Zahlen runtergehen, bleibt die Integrationsaufgabe. Wir müssen die Flüchtlinge in Arbeit und Beschäftigung bringen, die Kinder in Kitas unterbringen, eine adäquate Beschulung realisieren, schauen, dass das bürgerschaftliche Engagement klappt. Mit den aktuellen Projektstrukturen werden wir das nicht mehr realisieren können. Deshalb bereiten wir die Gründung eines neuen Amts für Migration und Integration vor, das bereits im April seine Arbeit aufnehmen soll.

chilli: Was sagt der Gemeinderat?
von Kirchbach: Der Gemeinderat akzep- tiert, dass er bestimmte Investitionsentscheidungen auch nachträglich ge- nehmigt, etwa bei den zusätzlichen Personalstellen, die jetzt erforderlich geworden sind, sodass wir die sofort besetzen können und der Stellenplan erst später genehmigt wird. Das ist eine beispielhafte Zusammenarbeit, wie ich sie in dieser Form noch nie erlebt habe.

chilli: Herr von Kirchbach, vielen Dank für dieses Gespräch.

Fotos: © bar, ns