Horche Se mol!: „Ein Weg zurück zur ganzen Familie“ STADTGEPLAUDER | 16.05.2022 | Erika Weisser

Dory Sontheimer

Im Blauen Haus Breisach erinnert eine Ausstellung an die Jüdinnen und Juden aus Baden, die 1940 in das Lager Gurs deportiert wurden. Unter den Verschleppten waren Dory Sontheimers Großeltern, die 1942 in Auschwitz ermordet wurden. 

Lust auf REGIO: Sie sind 1946 in Barcelona geboren und dort aufgewachsen. Wann haben Sie vom Schicksal Ihrer Großeltern erfahren?
Dory Sontheimer: Als meine Mutter starb. Ich wusste zwar, dass sie aus Freiburg war, aber nicht, warum sie 1933 allein nach Spanien ging. Ich wusste auch, dass ihre Eltern in Freiburg gelebt hatten, aber wie sie gestorben waren, hat mir nie jemand erzählt. Auch niemand aus der Freiburger Familie, bei der ich als Kind mehrmals zu Gast war, um Deutsch zu lernen. Die ganze Wahrheit erfuhr ich erst, als ich nach dem Tod meiner Mutter ihren Dachboden ausräumte und dort sieben Schachteln fand, in denen sie die ganzen Dokumente und mehr als 2000 Briefe aufbewahrt hatte.

Lust auf REGIO: Sie haben dann ein Buch geschrieben?
Dory Sontheimer: Nicht gleich. Zunächst recherchierte ich über die Geschichte meiner mütterlichen Familie. Als ich pensioniert wurde, begann ich dann mit dem Buch. Denn ich wollte nicht, dass diese Geschichte in Vergessenheit gerät. Zudem wollte ich daran erinnern, wozu Menschen im Namen der Gesellschaft fähig sind. Denn diese Entdeckung war für mich ein großer Schock. Ich fand aber auch Spuren zu überlebenden Familienmitgliedern, von denen ich nichts gewusst hatte. Zu ihnen habe ich inzwischen Kontakt aufgenommen. Auch über die Prager Familie meines Vaters habe ich einiges in Erfahrung gebracht. Etwa, dass meine fünf Cousins als Kinder von den Nazis ermordet wurden.
Ihnen habe ich mein zweites Buch gewidmet. Denn wenn man die Geschichte nur statistisch sieht, bleiben die Millionen Opfer anonym. Wenn man aber ein Gesicht und einen Namen hat, bleibt der Mensch in Erinnerung.

Lust auf REGIO: Was hat Sie jetzt nach Freiburg geführt?
Dory Sontheimer: Ich hatte im Rahmen der Gurs-Ausstellung eine Lesung an der Uni Freiburg und eine Matinee im Blauen Haus, wo ein Dokumentarfilm zum „Geheimnis der sieben Schachteln“ gezeigt wurde. Außerdem war ich eingeladen, bei der Verlegung von Stolpersteinen für meine Mutter Rosa und meinen Onkel Julius Heilbrunner dabei zu sein. Ich bin sehr dankbar dafür. Denn nun gibt es vor dem Haus, in dem sie gelebt haben, einen Weg zurück zu der ganzen Familie.

Foto: © J.M.Gil-Vernet