Wie sich ein Jahr ohne Nordtribüne für einen SC-Fan so anfühlt Sport | 17.04.2021 | Dominik Bloedner

SC Stadion

Der Schreihals aus der Ortenau, seit vielen Jahren eine Stufe über uns, ist verstummt. Das letzte Mal war er aktiv an jenem 7. März 2020. Man erinnert sich dunkel: Sallai, Günter, Koch, dreimal macht es bumm, dreimal gibt es eine Bierdusche von hinten, drei Punkte holt der Sportclub gegen Union Berlin. Zufrieden war er, unser  Stadionnachbar, euphorisch fast schon. Diesmal kein Grund zum Schimpfen über die eigene Mannschaft („Die schaffet nix“, „Höler raus“), über den eigenen Übungsleiter („Trainer raus“) oder den Unparteiischen („Schiri raus“, „Du Blinder“, „Schiedsrichter, Telefon“).

Und auch kein Grund, angetrunken nicht ausgetrunkene Bierbecher aus der letzten Reihe der Nordtribüne Richtung Spielfeld zu werfen, wenn es mal nicht so läuft, wie es doch eigentlich müsste. Wir vermissen ihn sehr, diesen mitunter recht emotionalen Mittfünfziger, der, wie er sagt, schon Ende der Achtziger mit dem Mofa zu SC-Spielen angetuckert kam.

Seit mehr als einem Jahr herrscht nun diese neue Normalität auch im und ums Schwarzwaldstadion im Freiburger Osten. Da leuchten an Spieltagen abends die Flutlichtmasten, da sorgen neongelb gewandete Ordner für Ordnung, und bis auf zwei Ausnahmen hat der Rasensport ohne Zuschauer stattgefunden: FC Corona eins, SC Freiburg nuuuuull.

Sicher, ab und an sieht man sie, die Familienväter mit Kinderwagen und die Hundebesitzer, die während eines Heimspiels – natürlich rein zufällig – an der Dreisam entlangspazieren und – natürlich rein zufällig – einen rotschwarzen Schal dabei tragen. Unser Schreihals ist derweil zu Hause in seiner Sportlerklause oder im eigenen Wohnzimmer, ob er dabei mit Bier um sich wirft, wissen wir leider nicht. Den Titel SC-Schreihals der Saison 2020/21 hat sich inzwischen Christian Streich gesichert. In einem Fußballstadion ohne Fans hört man den Trainer bis nach St. Ottilien.

Dort und anderswo im Schwarzwald ver­bringen wir seit jenem 3:1 so viele Heimspielsamstage. Spazierengehen ist das, was geht in diesen Zeiten. Und eine Live-Übertragung bei den Dampfplauderern von Sky oder DAZN ist ein eher überschaubares Vergnügen, eher eine Erinnerung an die derzeitige Trostlosigkeit und alles andere als großes Gefühlskino.

Was also bleibt, ist der Schlacht- und Schmähgesang an der frischen Luft. „Tief im Süden, isch unser Platz“, wird da im dunklen Tann leise gegrölt, die Freundin mit ihrer glockenklaren Stimme kommt mit einem „Scheiße, scheiße, VfB“ daher, und gemeinsam heißt es munter auf der Wiese „Immer wieder vor“ oder „Wer nicht hüpft, der ist ein Schwabe, hey, hey.“ Ebenfalls wandernde Schwaben müssen das aushalten, es sind besondere Zeiten, wir bitten um Nachsicht.

Derweil ist im Freiburger Westen ein neues Stadion entstanden. Irgendwann sollen wir hier also stehen, im Block F auf der Südtribüne, unseren Spaß haben, feiern, trauern und uns mit Bierbechern bewerfen lassen. Kaum vorstellbar. Zumal der Neubau – der, verglichen mit anderen neuen Stadien, zugegebenermaßen recht filigran und hübsch ist und wohl über funktionierende Toiletten verfügen wird – es schwer haben dürfte, die Herzen von Fußballromantikern im Sturm zu erobern.

Möbelhäuser und endlose Parkplatzflächen in der Nachbarschaft sind so wenig charmant wie etwa die Innenstadt von Wolfsburg. Doch diesen Fans kann geholfen werden: Falls die zweite Mannschaft in die dritte Liga aufsteigen sollte (die Lizenzierung ist beantragt, sportlich läuft es blendend), dann könnte das Schwarzwaldstadion die neue Heimstätte werden. 1860 München oder MSV Duisburg, das klingt nach großer Fußballwelt. Wir werden dabei sein, auf gewohnter Stufe auf Nord. Und wir zählen auf den Herren aus der Ortenau, eine ­Stufe über uns.

Foto: © Neithard Schleier