Ohne Gemeinderat: Freiburgs OB Horn plant, den Vollzugsdienst zu verdoppeln STADTGEPLAUDER | 11.12.2023 | Philip Thomas
Hotspot: Der Augustinerplatz lockt viele an – Anwohnende schlafen schlecht und wehren sichNach Mitternacht ist es auf dem Augustinerplatz zu laut, die Gemeinde hat für Ruhe zu sorgen. Das hat der Verwaltungsgerichtshof Mannheim in zweiter Instanz entschieden. Mit dem Urteil im Nacken plant Freiburgs Oberbürgermeister Martin Horn den Alleingang: Der umstrittene Vollzugsdienst soll aufgestockt werden. Die Gemeinderäte ätzen, die Kläger jubeln.
Freitagabend, 23 Uhr. Auf den Stufen der „Spanischen Treppe“ am Augustinerplatz sitzt eine kleine Schar Studenten. Tapfer nippen sie mitgebrachte Getränke. Die Außentemperatur beträgt sieben Grad, das Bier in Freiburgs beheizten Kneipen kostet allerdings mehr als fünf Euro. Bald setzt Nieselregen ein, das Quintett packt zusammen und zieht über die Pflastersteine davon.
In der warmen Jahreszeit herrscht hier Hochbetrieb. Dutzende schwatzen, prosten und grölen nicht nur an Wochenenden um die 2009 aufgestellte „Säule der Toleranz“. Für Ruhe sorgte ihr Neonlicht nicht. Fast zehn Jahre später, im Sommer 2017, protokolliert das Landesamt für Umwelt vor Schlafzimmerfenstern auf dem Augustinerplatz Lärmwerte bis zu 78 Dezibel. Das entspricht einer Waschmaschine im Schleudergang. Eine zweimonatige Dauermessung stellte nächtliche Werte von mehr als staubsaugerstarken 60 Dezibel fest. Damit ist die Geräuschkulisse laut Lärmwirkungsforschung gesundheitsgefährdend.
Grund für die Messung ist, dass die zwei entnervten Augustinerplatz-Anwohner Doris Morawe und Karlheinz Ruf im Jahr 2016 vor das Freiburger Verwaltungsgericht ziehen: Die Stadt habe Maßnahmen gegen den Lärm nach Mitternacht zu ergreifen. „Wir sind keine Spaßmuffel. Wir sitzen auch gerne unten, aber laute Gitarrenmusik um 3 Uhr Nachts geht nicht“, betont Rufs Ehefrau Daniela Lanig. Gegen die im Oktober 2018 erfolgreiche Klage legt das Freiburger Rathaus beim Verwaltungsgerichtshof (VGH) in Mannheim Berufung ein.
Wohl wissend um geringe Aussicht auf juristischen Erfolg, handelt Oberbürgermeister Martin Horn im Januar 2019 einen Deal mit den Klägern aus: Beide Parteien lassen das Verfahren am VGH ruhen, dafür werden am Platz unter anderem entsprechende Schilder angebracht, privater Alkoholverkauf verboten und der um 6 auf 17 Stellen erweiterte Freiburger Vollzugsdienst (VD) beauftragt, den Augustiner nachts mehrfach anzusteuern und für Ruhe zu sorgen.
»Urteil verpflichtet zum Handeln«
Zweieinhalb Corona-Jahre hält der Frieden. Bis der Freiburger Gemeinderat im Zuge von Einsparungen im Doppelhaushalt 2021/22 mit 27 zu 19 Stimmen beschließt, jene sechs VD-Stellen wieder zu streichen. Bei der Sitzung am 21. April 2021 saßen die Kläger im Gemeinderatsplenum. „Die haben uns zu verstehen gegeben: Wir ziehen das jetzt durch“, erinnert sich Ordnungsbürgermeister Stefan Breiter. Und Ruf und Morawe lassen das Verfahren wieder aufnehmen.
Im August geben die Mannheimer Richter den Freiburger Klägern in zweiter Instanz recht: Das Gericht attestiert der Stadt Freiburg ein „strukturelles Vollzugsdefizit“. Die in der Polizeiverordnung definierte Nachtruhe nach Mitternacht müsse durchgesetzt werden. Und zwar von der Stadt Freiburg, nicht der Landespolizei. Instrumente könnten laut VGH ein Boombox- oder Glasflaschen-Verbot sein. Ein solches wurde in Freiburg per Allgemeinverfügung im Juli des vergangenen Jahres erlassen, einen knappen später Monat allerdings wieder vom Freiburger Verwaltungsgericht kassiert. Aktuell plane der OB allerdings nicht mit diesen Maßnahmen.
Das VGH-Urteil setzt das Rathaus unter Zugzwang. Und Horn forciert den Alleingang. „Das Urteil verpflichtet zum Handeln. Wir als Stadtverwaltung müssen für Nachtruhe sorgen“, konstatierte der OB im November vor Journalisten. Der Gemeindevorsteher plant, den Vollzugsdienst von elf auf insgesamt 22 Stellen zu verdoppeln.
Durch den Gemeinderat müssen die Pläne nicht, weil die Stellen durch Vakanzen im aktuellen Personalbudget aufgefangen werden. „Mit dem nächsten Doppelhaushalt 25/26 will die Verwaltung die Stellen dann verstetigen und in den Stellenplan aufnehmen“, erklärt Rathaussprecherin Tabea Krauß das Manöver. Für das laufende Jahr fallen pro Stelle jährliche Kosten von 67.300 Euro an.
Das Echo aus dem Gemeinderat ließ nicht lange auf sich warten. „Das Vorgehen widerspricht dem von Ihnen öffentlich erklärten Anspruch, Lösungen in der Politik durch Kommunikation zu finden“, heißt es in einem Statement der JUPI-Fraktion. Horn wolle sich als Law-and-Order-Mann profilieren, erklärt die Fraktion Eine Stadt für Alle. Nach eigenen Angaben haben beide aus der Presse von der Entscheidung erfahren. „Wir erwarten, dass der Gemeinderat über dieses Thema diskutieren und entscheiden wird“, sagt Simon Sumbert, Fraktionsvorsitzender der Grünen.
Horn hat das Gremium düpiert, eine Debatte wollte er nicht riskieren. „Der Gemeinderat hätte hier dringend einbezogen werden müssen. Die VD-Debatte ist seit Jahrzehnten ein Reizthema in dieser Stadt“, erklärt Markus Schillberg für die Kulturliste. Fraktionspartner SPD ist sich nur darin einig, dass Präventionsarbeit ausgebaut werden soll. Für Bernhard Rotzinger, Stadtrat und Kreisvorsitzender der CDU, kommt die Aufstockung zu spät. Horn habe sich lange nicht getraut, einen Stellenpool von mehr als 4000 Mitarbeitern für den Vollzugsdienst einzusetzen. „Nun hat das Gericht ihm alle politischen Auswege verbaut“, sagt der ehemalige Polizeipräsident.
Das Rathaus hält an der Entscheidung fest. Es folgt damit dem Urteil des VGH. „Daher kann hier weder von einem Alleingang, noch von einem Verzicht auf Rückendeckung durch den Gemeinderat die Rede sein“, entgegnet Rathaussprecherin Krauß. „Die Stadt und alle politischen Akteure haben dieses rechtskräftige Urteil zu akzeptieren. Der Oberbürgermeister muss als oberster Dienstherr der Stadt entsprechend reagieren.“
Befugnisse wie die Polizei
Bis die Ordnungshüter auf der Straße sind, dürfte auf dem Augustinerplatz aber noch das ein oder andere Lied angestimmt werden. „Der Vollzugsdienst wird erst 2026 mit voller Stärke auftreten“, sagt der Kommissarische Leiter des Amts für Öffentliche Ordnung, Martin Schulz. Geschultes Personal sei schwer zu finden, der nächste Ausbildungskurs startet erst im März in Karlsruhe. Mehr Personal ermögliche, Hotspots wie den Augustiner häufiger anzusteuern. „Durch die erhöhte Präsenz erhoffen wir uns, dass viele Störungen gar nicht entstehen“, so Schulz.
Insgesamt sprachen die VD-Mitarbeiter von Mai bis Mitte Oktober 2579 mündliche und 636 schriftliche Verwarnungen im Stadtgebiet aus. Hinzu kamen 2890 präventive Gespräche sowie Streitschlichtungen. Formal hat der VD die gleichen Rechte und Pflichten wie die Polizei. So ist den Ordnungshütern beispielsweise erlaubt, Personalien aufzunehmen. In brenzligen Situationen sollen jedoch Polizeibeamte übernehmen.
„Das heißt nicht, dass wir den Freiburger Weg gänzlich verlassen“, sagt Horn. Das Konzept der Stadt beinhalte weiterhin Prävention und Deeskalation. Auch die Zahl der im Sommer erstmals eingesetzten Nachtmediatoren solle laut Rathaussprecherin Krauß aufgestockt werden. Insgesamt 16.200 Platznutzer sprachen die beiden Zweierteams im Sommer an, die meisten davon im Seepark. Die Lage für die dortigen Anwohner habe sich laut Rathaus „erheblich verbessert“.
Anfang Dezember kam es zu einem Treffen zwischen den beiden Klägern Ruf und Morawe sowie Ordnungsbürgermeister Breiter. „Der Bürgermeister hat uns Bemühen signalisiert, aber Bemühen reicht uns nicht mehr“, berichtet Morawe. Sollte auf dem nächtlichen Augustiner nicht bald Ruhe einkehren, wolle sie mit beiden Gerichtsurteilen beim Freiburger Regierungspräsidium vorstellig werden. Nach Einschätzung der Rechtsanwältin könnten Ruhestörungen nach Mitternacht auf dem Augustiner dann bald mit Zwangsgeld geahndet werden. Morawe: „Davon nehme ich mir dann ein Hotelzimmer.“
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