Verdingt & Verdrängt – Retrospektive Lika Nüssli in Basel STADTGEPLAUDER | 08.05.2022 | Erika Weisser

Cartoonmuseum von innen

Im Cartoonmuseum Basel ist noch bis zum 29. Mai eine Präsentation des vielgestaltigen Werks der St. Galler Künstlerin Lika Nüssli zu sehen. Darunter sind auch Originalzeichnungen ihrer soeben erschienenen Graphic Novel „Starkes Ding“, die das schwere Leben ihres Vaters als Verdingkind in der Landwirtschaft zum Thema hat. 

Der kleine Ernst ist 1943 sechs Jahre alt und ein fröhlicher Bub. Er lebt mit sechs Geschwistern und der Mutter auf einem Bauernhof, zu dem auch 20 Hühner, zehn Kühe, acht Kälber und andere Haustiere gehören. Der Vater ist nur selten da: Das Nachbarland Deutschland führt Krieg gegen die meisten Länder Europas, da müssen die Männer Abwehrdienst an der Grenze leisten. Ernsts Vater ist im Rheintal stationiert. Zwar muss der Junge auf dem Hof mithelfen, im Heuet oder bei der Kartoffelernte. Und er muss die Kühe auf der Weide hüten, muss aufpassen, dass keines der „verspielten und ungestümen“ Jungtiere ausbricht. Doch das ist für ihn selbstverständlich, macht ihm manchmal sogar Spaß.

Denn es gibt bei der Arbeit immer wieder auch die Gelegenheit für ein Spiel: Er liebt es, den Geschwistern oder den Tieren beim Fangis hinterherzujagen, mit den Brüdern kleine Ringkämpfe oder das Hoselupf-Spiel zu machen. Oder sich mit ihnen darin zu messen, wer die größere Heuburdi tragen kann. Außerdem schaut Ernst „so gern den Hühnern beim Fliegen zu“: Er wirft sie aus dem Fenster der Tenne. Aber nur, wenn der Vater fort ist.

Als Ernst noch nicht einmal 12 ist, ändert sich sein Leben: Bauer Schweizer aus der „Höchi“ kommt daher und will einen der fünf Buben der Familie zur Arbeit auf seinem Hof anheuern. Die Eltern beraten sich – und finden, dass sie den Zuverdienst von einem Franken am Tag gut gebrauchen könnten. Am Ostermontag 1949 bringt der Vater Ernst zum Schweizer. Und damit ändert sich das Leben des Kindes auf einen Schlag: Er hat keine ihm wohlgesinnten Menschen mehr um sich, er ist der Gewalt und der Lieblosigkeit des Schweizers, den er „Meister“ nennen muss, ganz allein ausgesetzt. Er lebt in Angst, Schrecken und Hunger, seine von daheim gewohnte Mitarbeit wird zur Zwangsarbeit. Mehr als vier Jahre lang.

Ernst ist der Vater von Lika Nüssli. „Mein ganzes Leben wusste ich, dass er als Kind verdingt wurde“, sagt sie. Doch er habe nicht viel darüber erzählt – „bis ich ihn ernsthaft danach gefragt habe“. Etwa 70 Jahre nach seiner Zeit als Verdingkind begann sie, ihren inzwischen 85-jährigen Vater bei regelmäßigen Besuchen nach seinen Erinnerungen zu fragen. Und sie erfuhr, dass die Erlebnisse bis heute wirken, dass er manchmal noch „Alpträume vom Schweizer“ hat. Dass er immer noch den Schmerz von damals spürt, als er am ersten Weihnachten nicht nach Hause durfte. Dass er lange Zeit dachte, er sei zur Strafe weggegeben worden. Und dass er noch heute darunter leidet, vom „Meister“ nie ein Wort des Dankes oder der Anerkennung gehört zu haben.

In der Schweiz, schätzt die engagierte Künstlerin, „lebt heute eine vermutlich fünfstellige Zahl ehemaliger Verdingkinder, die nicht selten psychische Probleme haben“. Die in Einzelfällen bis in die 1970er-Jahre praktizierte Verdingung und Ausbeutung der faktisch rechtlosen Kinder aus armen Familien ist nach Nüsslis Auffassung „eines der dunkelsten Kapitel der jüngeren Geschichte der Schweiz“. Ein Tabuthema, das lange Zeit verdrängt war und erst allmählich aufgearbeitet wird. 

Nun zum ersten Mal auch in einem Comic. Als Würdigung der Lebensleistung nicht nur ihres Vaters. Und auch als eine Art Entschädigung.  

Info

www.cartoonmuseum.ch

 

Buchcover

Starkes Ding
von Lika Nüssli
Edition Moderne, 2022
256 Seiten, Broschur
Preis: 36 Euro

 

 

 

Foto: © Caroon Museum Basel