„Kein revolutionärer Sozialist“: Oberbürgermeister Martin Horn im Interview Politik & Wirtschaft | 22.12.2019 | Lars Bargmann

Martin Horn

Ob er noch ein Sakko anziehen soll? Nein, Martin Horn sieht auch ohne Sakko nach Oberbürgermeister aus, als chilli-Chefredakteur Lars Bargmann ihn in seinem Büro besuchte. Der jüngste Oberbürgermeister einer deutschen Großstadt hat einen festeren Auftritt als zum Amtsantritt vor anderthalb Jahren. Zugeneigt, aber trittfest in seiner politischen Marschroute. Die Kritik an seinen Spontanstopps bei geplanten Baumfällungen respondiert er so: „Da sind Sie auf dem Holzweg.“

chilli: Herr Horn, Ihr erstes komplettes Haushaltsjahr ist nun bald vorbei: Inwiefern trug es Ihre Handschrift?
Horn: Sehr deutlich, das ist der erste Haushalt seit vielen Jahren, der wieder einen Posten für aktive Liegenschaftspolitik hat. Wir wollen nicht weiter Flächen verkaufen, um den Haushalt zu subventionieren, sondern Flächen zurückkaufen, um damit auch die Oberhand über deren Entwicklung zu bekommen. Das hätte es ohne einen neuen Oberbürgermeister nicht gegeben.

chilli: Als Beispiel taugt das Rotteckhaus. War der Verkauf vor einigen Jahren ein politisches Eigentor?
Horn: Die Zeiten ändern sich. Wenn man heute so ein Haus kauft, verliert das in der Lage nicht mehr an Wert. Wir haben auch schon drei Vorkaufsrechte gezogen. Wir haben in Munzingen fürs Projekt „Einfach gemeinsam wohnen“ 8000 Quadratmeter gekauft und planen keine weiteren Verkäufe mehr. Das ist ein Umdenken, das ist konkret Martin Horn.

chilli: Das Rotteckhaus wird 6,8 Millionen Euro kosten. Hat die Stadt nicht schon genug Schulden?
Horn: Das ist gut angelegtes Geld. Auch meine Handschrift ist die Digitalisierung, da reden wir von einer ganz neuen Dimension. Im letzten Doppelhaushalt hatten wir dafür 2,5, jetzt über 14 Millionen Euro, das ist ein Quantensprung.

chilli: Die Digitalisierung war ein Wahlversprechen. Wenn es ein Marathon ist, wie weit sind Sie?
Horn: Die erste Fünf-Kilometer-Marke haben wir geschafft, weil wir das Thema nicht als Technologisierung verstehen, sondern als Prozess, von dem die Menschen konkret profitieren sollen. Und wir haben ein Amt für Digitales ge­gründet. Die zweite Fünf-Kilometer-Marke haben wir mit dem Beschluss für die Digitalisierungsstrategie erreicht. Da steckt viel mehr drin als nur Smart City. Es gibt sechs Handlungsfelder, eine Art roadmap …

chilli: … ein ganz konkretes Beispiel …
Horn: Nehmen wir die Unterflurcon­tainer. Müll wird unter der Erde gesammelt, wir messen digital, wie voll der Behälter ist, vermeiden halbvolle Leerungen und am Ende finden wir intelligente Routen für unsere Müllwagen, die nur volle ansteuern.

chilli: Vorbei die Zeiten, als im Rathaus 144.000 Seiten für eine Gemeinderatssitzung gedruckt und dann zu 48 Stadträten gefahren wurden?
Horn: Wir haben die Zahl der papierlosen Stadträte auf 27 verdoppelt. Die bekommen 1000 Euro pro Amtsperiode für ein Tablet oder Notebook. Mein Ziel sind 40, wir können aber niemanden verpflichten.

chilli: Die Landesregierung hat mit der Novelle der LBO die Digitalisierung von Bauanträgen ermöglicht. Im Baudezernat werden weiter Papiere, auch mal ein zusätzlicher Lageplan gefordert …
Horn: Da gibt es sicher Nachholbedarf. Wir wollen dazu kommen, dass Sie nicht nur digital einreichen, sondern auch nachverfolgen können, wo der Vorgang gerade ist. Das Gleiche muss auch bei einer Bürgeranfrage gelten. Ich habe kein Interesse, dass wir Projekte verhindern oder verlängern, weil wir langsame Prozesse haben.

chilli: Sie haben einen neuen Politikstil versprochen und gehen in die Stadtteile. Wie fällt die Bilanz bisher aus?
Horn: Ich will nahbare Kommunalpolitik machen. Gute Politik muss auch zuhören können. Ich bin mir bewusst, dass die Veranstaltungen nicht repräsentativ sind. Aber die Menschen erzählen da Dinge, die wir konkret in die Verwaltung mitnehmen können.

chilli: Etwa?
Horn: Etwa über Verbesserungen beim Baustellenmanagement oder bei Fahrradwegen.

chilli: Es geht zuweilen auch rustikal zu …
Horn: Es wird einem schonungslos entgegengeworfen, was nicht gut läuft. Aber es ist wichtig zu wissen, was die Leute bewegt. Und es ist spannend: Ich war in Weingarten und Waltershofen, das waren zwei Welten in einer Woche.

Martin Horn

Will gestalten, auch wenn der finanzielle Spielraum kleiner wird: Martin Horn.

chilli: Zum neuen Politikstil gehört auch das abrupte Stoppen von Baumfällungen. Am Keidelbad ging es um 190 Bäume, am Weststadion um 23. Fürchten Sie nicht, dass Horn bei Gegegenwind schnell umknickt.
Horn: Da sind Sie auf dem Holzweg. Ich habe das Vorgehen beim Keidelbad gestoppt, weil ich auf dieselbe Frage unterschiedliche Antworten bekommen habe. Wenn die Fakten schwimmen, muss ich auch mal Stopp sagen können. Und über die Beschwerden am Weststadion waren weder ich noch der Kollege Martin Haag (Baubürgermeister, d. Red.) informiert.

chilli: Optisch sieht es trotzdem so aus …
Horn: Wir sollten eine faktenorientierte Politik machen.

chilli: Das zentrale Thema aber ist bezahlbares Wohnen. Was haben Sie seit Juli 2018 erreicht?
Horn: Vieles. Wir haben ein Referat für bezahlbares Wohnen (RbW) gegründet, das ausgezeichnete Arbeit leistet …

chilli: … weil?
Horn: … weil die Leiterin Sabine Recker etwa die wichtigen Akteure der Wohnungswirtschaft, Ämter und Stadtbau-Geschäftsführer an einen Tisch bringt, Prozesse beschleunigt und dann in der Dezernentenkonferenz Entscheidungen zügiger gefällt werden.

chilli: Zum Beispiel?
Horn: Das Referat hat im ersten Jahr Bauprojekte mit mehr als 500 Wohnungen unterstützt. Bei einem Projekt für Wohnheimplätze eines sozialen Trägers hatten wir eine festgefahrene Situation. Dank des RbW konnten wir das lösen und werden so Stadtbau-Wohnungen frei bekommen. Wir haben auf unserer Homepage mittlerweile 50 Förderprogramme für bezahlbares Wohnen von Stadt, Land und Bund gelistet und verlinkt. Wir sind auch dabei, die Rahmenbedingungen für ein Azubiwohnheim anzugehen, weil es für diese Zielgruppe noch gar keine Angebote gibt. Und wir erstellen nach dem Leerstandskataster noch ein Baulückenkataster …

chilli: … das ist nach Komreg und Pfif dann das dritte. Bisher war der Erfolg stark überschaubar.
Horn: Lassen Sie sich überraschen.

chilli: Das wichtigste Instrument bleibt die Freiburger Stadtbau. Sie wollen sie neu ausrichten. Gibt es dafür überhaupt einen Grund?
Horn: Ich will keine Siedlungsgesellschaft 2.0, aber die FSB hat mehr Potenzial. Seit 2006 hat sie zwar 1400 neue Wohnungen gebaut, unterm Strich aber nur 300 mehr in ihrem Bestand. Wir starten jetzt eine Wohnungsbauoffensive, wir wollen, dass sie in zehn Jahren 1000 zusätzliche im Bestand hat. Das ist mein Ziel. Wenn wir mehr fordern, müssen wir aber auch mehr fördern …

chilli: Aus dem Stadtsäckel?
Horn: Wir haben noch ein paar attraktive Grundstücke, die wir günstiger abgeben könnten. Wir müssen sie aber auch sozial stärken. Die FSB macht super Arbeit, wir müssen aber mutiger auftreten und deutlicher sagen, was sie für unsere Stadt alles leistet.

chilli: Sie wollen die FSB stärken, frieren aber die Mieten ein …
Horn: Die FSB braucht eine gute Eigenkapitalquote und deswegen brauchen wir auch Mieterhöhungen. Aber wir müssen weg vom Dogma, dass wir an den Mietspiegel ranmüssen.

chilli: Die Stadtbau wird auch beim Neubaugebiet Stühlinger West mit insgesamt rund 1000 Wohneinheiten eine große Rolle spielen. Private Bauträger sollen draußen bleiben. Weil?
Horn: Ich bin kein revolutionärer Sozialist, aber wir brauchen Wohnraum für kleine und mittlere Einkommensschichten, daher wollen wir in diesem Gebiet nur gemeinwohlorientierte Akteure zulassen. Die bauen Wohnungen, die auch nach 25 Jahren nicht verkauft werden. Und trotzdem haben wir schon deutlich mehr Anfragen als Flächen.

chilli: Sie müssen aufpassen, dass solche Vergaben rechtlich einwandfrei sind …
Horn: Ja, wir brauchen ein Vermarktungskonzept, das das schafft.

chilli: Wann geht’s los?
Horn: Ich hoffe, 2022.

chilli: Bei der zweiten großen Wohnungshoffnung Zähringen Nord dauert es auch viel länger als gedacht.
Horn: Wir sind immer noch in herausfordernden Grundstücksverhandlungen (das Rathaus vergaß den Störfallbetrieb Micronas und die damit eingeschränkte Bebaubarkeit, d. Red.). Ein konkretes Datum kann ich hier nicht nennen. Aber wir sind auch schon am Tuniberg aktiv, wir wollen, dass die Ortschaften ihren Charme behalten, aber es wird dort nicht nur Einfamilienhäuser geben.

chilli: Was sind Ihre Vorstellungen für eine Nachnutzung des Schwarzwaldstadions?
Horn: Der SC wird das nicht exklusiv ­nutzen können, auch wenn er der ­zentrale Akteur bleibt. Die ganze Sport­achse-Ost hat ihr Limit erreicht. Post Jahn und FT 1844 brauchen Flächen.

Martin Horn

chilli: Andere Nutzungen?
Horn: Der Sport hat Priorität.

chilli: Um die Stadthalle gibt es einen regelrechten Hype um neue Nutzungsideen. Bleibt sie in städtischer Hand?
Horn: Ja. Ich will eine langfristige Nutzung, die zu Freiburg passt.

chilli: Freiburg steht vor dem Stadtjubiläum. Sie wollten, sagten Sie uns nach der Wahl, etwas bauen, das längerfristig bleibt und die Stadt verschönert. Das konnten wir bei den Planungen noch nicht feststellen …
Horn: Schauen Sie genau hin: Wir kriegen drei Jubiläumsspielplätze als Mehrgenerationentreffpunkte mit einer Investition von einer Million Euro. Das sind viel mehr als nur Spielplätze.

chilli: Ausgeben ist traditionell einfacher als einnehmen, unterm Strich stehen Ende des Jahres fast 19 Millionen Euro neue Schulden.
Horn: Nun, wir nehmen von den genehmigten 37 Millionen Euro nur 18,9 Millionen neu auf. Aber das Land schuldet uns noch rund elf Millionen Euro für die Flüchtlingsunterbringung, sodass es unterm Strich besser aussieht als gedacht.

chilli: Wie hoch wird der Schuldenberg Ende 2019 sein?
Horn: Knapp 207 Millionen Euro.

chilli: Gute Schulden oder schlechte?
Horn: Investitionen in Bildung, in Kitas und Schulen sind gute Schulden. Aber Nachhaltigkeit ist mehr als Klimaschutz, und wir können nicht unbegrenzt so weitermachen. Unsere Einnahmen decken die Kostensteigerungen bei den Ausgaben jetzt schon nicht mehr ab. Der Spielraum wird kleiner. Da wir aber trotzdem gestalten wollen, müssen wir auch bestehende Beschlüsse hinterfragen: Können wir auf etwas verzichten, um etwas Wichtigeres zu machen?

chilli: Sie müssen doch erst einmal das machen, was schon beschlossen wurde.
Horn: Wir schieben eine Bugwelle von 100 Millionen Euro an Investitionen vor uns her. Wir müssen da mehr Struktur reinbekommen, auch wenn vieles unverzichtbar ist.

chilli: Worüber haben Sie sich geärgert 2019?
Horn: Ich bin enttäuscht, dass wir nicht Exzellenz-Uni geworden sind. Ich hätte mir vom Klimapaket mehr erwartet. Das Gerichtsurteil zu den Abendspielen im Stadion, das Hin und Her war eine Achterbahnfahrt, das waren die sechs wunderlichsten Stunden des Jahres.

chilli: Antisemitismus, Mord auf der Haid, der Massenvergewaltigungsprozess Hans-Bunte – das Ende der Idylle?
Horn: Wir leben nicht in einer Idylle. Was mich insgesamt erschreckt, ist die zunehmende Spaltung der Gesellschaft, das Demokratieverständnis von einigen, die Politikverdrossenheit, das Erstarken der AfD, der Ton in den Parlamenten …

chilli: … auch bei Ihnen im Gemeinderat?
Horn: Das ist jetzt schon eine völlig andere Art der Kommunikation. Wir sind viel stärker aufs Regelwerk fokussiert und der Ton wird deutlich rauer. Aber es ist auch eine Chance, dass die moderaten Kräfte sich dem stellen.

chilli: Jenseits rauer Töne: Wie feiern Sie Weihnachten?
Horn: Mit Oma und Opa in der Pfalz. Wir gehen zum Familiengottesdienst. Ich freue mich auf wunderschöne ­Familientage und eine Auszeit.

chilli: Herr Horn, vielen Dank für dieses Gespräch.

Fotos: © pt