Trauer und Dankbarkeit: Ukrainer und ihr neues Leben in Freiburg Szene | 18.02.2023 | Pascal Lienhard und Philip Thomas

Ein Koffer mit ukrainischen Flagge in einem lichtdurchfluteten Flur.

Fast 3000 Ukrainer·innen sind nach Freiburg gekommen, seit Russland vor bald einem Jahr ihre Heimat überfallen hat. Die Waisenkinder, die in den ersten Kriegstagen in den Breisgau flohen, haben inzwischen ein neues Zuhause gefunden. Auch zwei Ukrainerinnen freuen sich über die Hilfe, die sie in Freiburg erfahren – und hoffen, bald zurückkehren zu können. Die Stadtmission beobachtet, dass die anfängliche Unterstützungswelle abgeebbt ist.

Ihre Geschichte rührte nicht nur Freiburg: 170 Kinder und Jugendliche flohen zu Beginn des Kriegs mit Betreuer·innen aus dem Heim „Vaterhaus“ in der Nähe Kiews nach Freiburg. Auf ihrem Weg gerieten die Busse unter Beschuss. Sie schalteten die Scheinwerfer aus, die Polizei unterstützte mit einem Ablenkungsmanöver.

Knapp ein Jahr später scheinen viele der 5- bis 17-Jährigen im Breisgau angekommen zu sein. Sie gehen zur Schule und lernen in Integrationsklassen Deutsch. 31 von ihnen sind in einem ehemaligen Hotel in Bad Krozingen untergebracht. Dafür hat die Evangelische Stadtmission Freiburg den Betrieb ihres Hotels aufgegeben und die Tochtergesellschaft Vaterhaus gegründet. Die Zimmer dort sind spärlich, aber liebevoll eingerichtet. An den Wänden hängen selbst gemalte Bilder und Fotos koreanischer Popstars. „Die Kinder haben hier ein Zuhause gefunden“, sagt Heimleiter Roman Korniiko auf einem Pressetermin im Januar.

Hotel wird zur Heimat

Die Stadtmission ist ein wichtiger Akteur der Ukraine-Unterstützung. Mit der Tochtergesellschaft S’Einlädele hat sie die Evakuierung des Kiewer Partnerprojekts „Vaterhaus“ unterstützt. Pressesprecher Tobias Pfleger erklärt, dass S’Einlädele Erfahrungen und Kontakte aus 30 Jahren Ukraine-Hilfe habe. In den vergangenen drei Jahrzehnten wurden mehrere Projekte mit aufgebaut und unterstützt. „Dadurch haben wir ein enges Netz an persönlichen und vertrauenswürdigen Partner·innen vor Ort und wissen, dass die Hilfsgüter in der Ukraine bei den Menschen ankommen, die dringend darauf angewiesen sind“, sagt Pfleger.

Seit Ausbruch des Krieges schicken Stadtmission und S’Einlädele Geldspenden an Partnerprojekte in der Ukraine. Zudem werden Geflüchtete in der Region etwa bei der Suche nach Wohnraum oder bei Behördengängen unterstützt. Es wurden auch mehr als 1000 Tonnen Hilfsgüter sowie Transporter und Krankenwagen in die Ukraine geliefert. Pfleger berichtet, dass das Spendenaufkommen vor allem in den ersten Wochen erfreulich hoch gewesen sei. Mehrere Lkw mit Carepaketen starteten gen Osten. Neben Menschen, die Sachspenden vorbeibrachten, packten viele mit an, um Güter zu verladen. „Die große Unterstützungswelle ist allerdings recht bald wieder abgeebbt“, sagt Pfleger. Ein Großteil der Hilfsgüter müsse mit Spendengeldern gekauft werden.

Laut städtischem Pressesprecher Sebastian Wolfrum sind bis Mitte Januar rund 2900 ukrainische Geflüchtete nach Freiburg gekommen, davon sind etwa 2430 geblieben. Zu ihnen gehört Anna Kyryliuk. Die 34-Jährige kommt aus Kiew. Sie berichtet auf Englisch, dass sie bis zum 24. Februar nicht an einen bevorstehenden Krieg geglaubt habe. „Ich hätte nicht gedacht, jemals in Deutschland zu leben, vor dem Krieg war in unserem Land für mich alles gut“, sagt sie. Als der Angriff begann, hoffte sie noch, dass es nach einigen Tagen vorüber sei. Aber das Leben in Kiew wurde immer gefährlicher. „Wir konnten einfach nicht bleiben“, sagt Kyryliuk. Doch wo sie und ihre Eltern hin sollten, wusste sie nicht. „Wir verließen unsere Heimat und alles, was wir hatten, um einen sicheren Ort zu finden.“

Anna Kyryliuk

Anna Kyryliuk

Einige Tage verbrachten sie in einem Keller am Rande Kiews, bis es auch dort zu unsicher wurde. Die Familie machte sich auf den Weg zur ukrainischen Westgrenze, wo sie für einige Tage Unterschlupf fand. Die nächste Station war ein Flüchtlingscamp des Roten Kreuzes in Rumänien. „Dort war es schrecklich“, erinnert sich Kyryliuk sichtlich bewegt. Die Betten standen eng an eng, sanitäre Anlagen waren in einem Nebengebäude, das Camp glich einem Dorf ohne Straßen.

Als sie erfuhren, dass Busse nach Österreich, Belgien, Polen und Deutschland fuhren, überlegten Kyryliuk und ihre Eltern nicht lange. „Ich hätte mein ganzes Geld dafür gegeben, aus dem Camp wegzukommen“, sagt Kyryliuk. Da sie einen guten Freund in Deutschland hat, entschied sie sich für die Fahrt dorthin. In München angekommen, wandte sich die Familie ans Rote Kreuz. Da dort bereits viele Menschen aus der Ukraine waren, wurden Kyryliuk und ihre Eltern in eine Stadt nordwestlich von München geschickt. Dort musste die Familie einen Coronatest machen. Kyryliuks Test war positiv, gemeinsam mit ihrer Eltern begab sie sich für rund zehn Tage in Quarantäne. In dieser Zeit organisierte Kyryliuks Kontakt eine Unterkunft in Freiburg. „Die Leute dort waren so nett“, sagt Kyryliuk. „Wir mussten zu Beginn nicht einmal eine Miete zahlen.“ Erst als klar wurde, dass die Familie länger in Freiburg bleiben würde, stimmten die Gastgeber zu, Geld anzunehmen.

Dass Ukrainer·innen in Freiburg in Privatwohnungen unterkommen, ist keine Seltenheit. Laut Wolfrum sind aktuell rund 60 Prozent der aus der Ukraine Geflüchteten privat untergebracht, rund 40 Prozent in Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete und von der Stadt dafür angemieteten Wohnungen.

»Ich möchte nützlich sein«

Als Kyryliuk nach Freiburg kam, hatte sie keine Deutschkenntnisse. Inzwischen kann sie sich gut ausdrücken, seit Mai besucht sie Deutschkurse. Dort lernte sie Tatyana Karetnikova kennen. Die 38-Jährige floh im März vor dem Krieg aus Kiew. Sie kam allein nach Deutschland – in der Hoffnung, später ihre Tochter und die restlichen Familienmitglieder aus der Ukraine holen zu können.

Tatyana Karetnikova

Tatyana Karetnikova

Im Sommer vergangenen Jahres realisierte sie, dass sie das nicht schafft. „Das war für mich sehr belastend“, erzählt sie auf Englisch. Ihr deutscher Psychologe habe zumindest ein Stück weit helfen können. „Die Situation ist schwierig“, sagt Karetnikova. „Ich telefoniere jeden Tag mit meiner Familie, wir vermissen uns sehr.“ Karetnikova arbeitete in ihrer Heimat als Psychologin und Lebenscoach. Das setzt sie in Freiburg mit Workshops für ukrainische Frauen fort. „Ich möchte nützlich sein“, sagt sie.

Kyryliuk und Karetnikova haben bereits ihre eigenen Freiburger Erfahrungen gemacht. Als Kyryliuk ankam, war sie überrascht. „Die Stadt sieht genauso aus wie Lviv“, sagt sie lachend. Dass Lviv die Partnerstadt Freiburgs ist, war ihr zu diesem Moment noch gar nicht bewusst. Karetnikova absolvierte ihre Freiburger Feuertaufe diesen Sommer: Auf ihrem Instagram-Account berichtet sie, dass sie sich über die Jahre mehrmals vorgenommen habe, das Radfahren zu lernen. Sie habe jedoch nie die Gelegenheit gehabt, es wirklich anzugehen. „Hier in Freiburg ist das aber notwendig“, sagt sie. „Also habe ich es gelernt.“

Kyryliuk ist den Menschen dankbar, die ihr und ihren Eltern geholfen haben. „Ich schätze Deutschlands Hilfe sehr“, sagt sie. Karetnikova erklärt, dass ihr nicht klar gewesen sei, dass ihnen so viele Menschen helfen möchten. Dafür sei sie sehr dankbar. Auch wenn das Leben nicht einfach ist, wie sie hinzufügt: „Trotz der Tatsache, dass wir hier ein normales Leben führen, wollen wir unbedingt nach Hause in unser Land zu unseren Liebsten gehen, wenn die Sicherheitslage in der Ukraine es zulässt.“ Wann das sein wird, wissen sie genauso wenig wie die Kinder aus dem „Vaterhaus“.

Fotos: © iStock/Victoria Kotlyarchuk; privat