Weg mit dem Wagen: chillist testet autofreies Leben STADTGEPLAUDER | 14.05.2022 | Till Neumann

Will was ändern: Till Neumann mit Rad und Anhänger für den Nachwuchs

Leben ohne eigenes Auto. Für viele ist das unvorstellbar. Für andere das Normalste der Welt. chillist Till Neumann hat sich nach langem Ringen im Februar für eine „Autokorrektur“ entschieden. Obwohl ihm dringend davon abgeraten wurde. Nach zwei Monaten zieht er erste Bilanz: Wie lebt es sich ohne festen motorisierten Untersatz?

Ich bin auf dem Rad groß geworden. Aber auch im Auto. In der nordbadischen Pampa ist Autofahren Standard. Ich wüsste nicht, wer in unserem 1000-Seelen-Dorf keins hatte. Mit 18 zog ich in die Großstadt. Natürlich ohne Auto. Hat’s mir in Studienzeiten gefehlt? Nicht, dass ich wüsste. Rad, Bahn oder Mitfahrgelegenheit – das reichte.

„So ein Wahnsinn“

Als Redakteur heuerte ich im Schwarzwald an. Mit Spätschichten bis 0 Uhr. Nicht mal das Sammeltaxi fuhr da noch. Also musste ein Auto her. Das war 2013. Ich weiß noch genau, wie ich mich dagegen sträubte. So viel Geld ausgeben für etwas, das ich eigentlich nicht wollte. Doch klar: Ab dann war es praktisch. Auch für Redaktionstermine auf dem Land oder Fahrten als Musiker mit der Band zu Konzerten. Den Kofferraum voller Technik. Zugvielfahrer blieb ich trotzdem.

Vor zwei Jahren wurde ich Vater. Komfortabel waren die Fahrten zu Oma und Opa mit all dem Gepäck schon. Dennoch nahmen wir meist die Bahn. Auch dem Kleinen gefiel das. Im Auto war er Dauerschimpfer – zu eng, zu langes Sitzen. Wenn ich aus dem Fenster unserer Freiburger Wohnung schaute, dachte ich oft: So ein Wahnsinn, überall stehen Autos. Auch unseres. Ich musste an einen Satz denken, den mir der Freiburger Umweltforscher Philipp Späth 2019 bei einem chilli-Interview gesagt hat: „Die Zeit für Privatautos in Innenstädten ist vorbei.“ Zu gerne hätte ich das unterschrieben. Doch mein Wagen stand vor der Tür.

„Überleg dir das gut“

Till Neumann auf seinem Fahrrad

Auch bei Regen: der chilli-Redakteur auf dem Rad

Nach jeder nervigen Autoreparatur fluchte ich: Jetzt wird verkauft. Doch meine Familie warnte: „Überleg dir das gut – gerade mit Kind.“ Als vor vier Monaten eine Eigenbedarfskündigung ins Haus flatterte, suchten wir eine neue Bude. Auch im Umland. Mit viel Glück fanden wir im März eine im Freiburger Rieselfeld. Den Luxus, in der Stadt bleiben zu können, feierten wir. Und da machte es Klick. Jetzt wird verkauft. Carsharing, Fahrrad, Bahn. Alternativen gibt’s doch zuhauf. Die Familie haben wir erst informiert, als der Wagen schon weg war.

2800 Euro hat das Auto gebracht. Obendrauf kommen 500 Euro Rückzahlung der Kfz-Versicherung. Angefallen sind 70 Euro Anmeldegebühr fürs Carsharing. Zehn Mal habe ich die Flotte seitdem genutzt. Privat und beruflich. Gekostet hat mich das rund 350 Euro. Das liegt vor allem an einem Zweitagestrip nach Frankreich für 160 Euro. Da wäre der private Wagen günstiger gewesen.

700 Euro gespart

Ob es sich dennoch lohnt? Der Blogger Heiko Bielinski rechnet schon länger: Seit sechs Jahren kalkuliert er, was er ohne eigenes Auto mit einer vierköpfigen Familie spart. 2021 waren es knapp 700 Euro. Auch die anderen Jahre ist er im Plus. Mit seinem Buch „Einfach autofrei leben“ will er „Ängste und Vorurteile nehmen, die man beim Gedanken an ein Leben ohne eigenes Auto vielleicht noch hat“. Die kenne ich gut. Es ist gar nicht so einfach, so ein Ding loszuwerden, wenn man sich daran gewöhnt hat. Auch andere Eltern erzählen mir davon: Sie würden gerne, aber sie wagen es nicht.

Auch das Buch „Autokorrektur“ von Katja Diehl motiviert. Sie sagt: Mobilität darf nicht mehr vom Auto her definiert werden. Sondern vom Menschen. Das bestehende Verkehrssystem findet sie ungerecht und unmenschlich. Ihre harte Ansage: „Das beste Auto ist das, was nicht mehr gebaut werden muss.“ Den Umbau hält sie für möglich, die Technik sei da.

Traurige Bilanz

Steigt: Die Zahl der PKW in Freiburg. Quelle: Rathaus Freiburg.

Der Blick auf die Zahlen stimmt wenig optimistisch: 1500. So viele Pkw kommen in Freiburg seit 2012 Jahr für Jahr dazu. Und das, obwohl die Stadt umbaut: mehr Radwege, mehr Straßenbahnhaltestellen, höhere Parkgebühren, weniger Platz für Autos. Kann das so weitergehen? Ich denke: Auch für eine wachsende Stadt ist das eine traurige Bilanz.

Zwei Monate ist meine dreiköpfige Familie jetzt ohne eigenes Auto unterwegs. Erster Eindruck: Der Verkauf hat unser Leben manchmal erschwert, aber insgesamt erleichtert. Die Bahn ist für lange Strecken unschlagbar. Auch wenn dort fieserweise Anhänger wie unser Thule verboten sind (ignorieren wir erfolgreich). Die Grüne Flotte lässt sich easy per App buchen – wir kriegen getankte, geputzte und moderne Autos in allen Größen. Das System ist großartig, wenn man sich drauf einlässt und vorausplant. Gerade am Wochenende sind Autos spontan nur schwer zu kriegen. Unseren Radanhänger können wir jetzt ohne Gefriemel und Zusammenklappen in den Kofferraum stellen. Inspektionstermine? Reifenwechsel? Autowäsche? Schnee von gestern. In Städten wie Freiburg geht’s. Wenn man will. Das gute Gefühl, Teil der Wende zu sein, gibt’s on top. Und der hauseigene Carport ist gewinnbringend weitervermietet.

Der, der das Auto am meisten vermisst, ist unser Sohn. „Papa Autoooo“, ruft er manchmal verzweifelt. Ich antworte: Das eine ist verkauft. Dafür haben wir jetzt eine ganze Flotte.

Fotos: © Till Neumann, Jürgen Baumeister, Pascal Lienhard

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