Die zehn Jahreszeiten: Der phänologische Kalender Haus & Garten | 16.01.2024 | Dorothea Wenninger

Schneeglöckchen

Blühen die Schneeglöckchen schon in Nachbars Garten oder schaukeln die Kätzchen des Haselstrauchs im Wind? Dann ist der Winter definitiv vorbei. Die Blüten dieser beiden Pflanzen zeigen im phänologischen Kalender den Anbruch des Vorfrühlings an. Diese Jahreszeiten richten sich nicht nach einem Tages- oder Monatsdatum, sondern nach jährlich wiederkehrenden Phänomenen in der Natur.

Jeder weiß, dass der Frühling im Oberrheintal wesentlich früher Einzug hält als auf den Schwarzwaldhöhen. Und trotzdem steht in den Kalendern dasselbe Datum für den Frühlingsbeginn: der 20. März. Für dieses Datum wird as­tronomisch die Tagundnachtgleiche der ersten Jahreshälfte errechnet, also der Tag, an dem Tag und Nacht etwa gleich lang sind. In der Meteorologie gilt der 1. März als Start in den Frühling. Das hat aber rein rechnerische Gründe: Damit Wetter- und Klimadaten statistisch einfacher erfasst und verglichen werden können, rechnen Meteorologen mit vollständigen Monaten.

Forsythienblüte

Ganz anders funktioniert der phänologische Kalender: Hier ist es die Natur, die sagt, welche Jahreszeit anfängt oder endet. Schneeglöckchen und Haselblüten verkünden den Vorfrühling. Wenn die Forsythie ihre Blüten entfaltet, ist der Erstfrühling da. Den Start in den Vollfrühling wiederum kündigen die Apfelbäume mit Öffnung ihrer Blüten an. Zur selben Zeit fächern die Stieleichen ihre Blättchen auf. Fangen Robinie oder Holunder an zu blühen, steht der Frühsommer auf der Türschwelle, und sobald es betörend nach Lindenblüte duftet, ist es Hochsommer. Es gibt so viele Veränderungen in der Natur, die fließend und immer wiederkehrend verlaufen, dass vier Jahreszeiten nicht ausreichen, um die Vielfalt der Erscheinungen zu klassifizieren. Die Wissenschaft dieser genauen Naturbeobachtung, die Phänologie – wörtlich die Lehre von den Erscheinungen, in diesem Fall der Naturerscheinungen – unterteilt das Jahr deshalb in zehn Jahreszeiten: Frühling, Sommer und Herbst werden in je drei Phasen unterteilt, weil in dieser Zeit so viel passiert. Der Winter hingegen kommt mit einer aus, die Vegetation ruht. Der phänologische Winter bricht an, wenn Stiel­eiche und späte Apfelsorten ihre Blätter und die Lärche ihre Nadeln verlieren.

Der aktuelle Winter setzte phänologisch gesehen viel später ein als andere Winter. Letztes Jahr behielten die Bäume ihr Laub nämlich besonders lang. Das hat auch Anja Engels vom Deutschen Wetterdienst (DWD) in Offenbach registriert. Seit 1991 ist sie dort als phänologische Beobachterin tätig. Sie organisiert außerdem alles rund um die phänologischen
Meldungen an den Deutschen Wetterdienst. Um die vielen Daten zu sammeln, sind in ganz Deutschland etwa 1070 Naturbeobachterinnen und -beobachter ehrenamtlich unterwegs, die ihre Beobachtungen regelmäßig an den Deutschen Wetterdienst melden, manche sofort nach der Aufnahme. Meist gehen sie zwei- bis dreimal die Woche auf immer dieselbe Tour, im März, April und Mai kann es aber schon mal täglich notwendig sein. „Der Frühling ist eine spannende Zeit, da ist so viel los in der Natur“, meint Anja Engels. Man muss schon genau hinschauen, um die einzelnen Phasen genau bestimmen zu können. Es sind nicht nur Biologinnen, Förster oder Landwirte, die sich hier engagieren, sondern auch viele Naturinteressierte. Gerrit Mübareg, ein Ehrenamtlicher aus dem Nordrachtal, erzählt, dass er schon als Kind gerne draußen war und dass diese zahlreichen Gänge durch die Natur ein sehr guter Ausgleich zum stressigen Beruf seien. Es macht ihm einfach Freude, die Veränderungen in der Natur bewusster wahrzunehmen. Mit dem Tagebuch für phänologische Beobachtung und dem Meldebogen des Deutschen Wetterdienstes läuft er „seinen“ Weg ab, inspiziert jedes Ästchen „seiner“ Zeigerpflanzen, die für die Jahreszeitenübergänge ausschlaggebend sind, und notiert genau, in welcher Phase sie sich befinden.

Apfelbaum Blüte

Nützliche Naturbeobachtungen

Menschen in der Landwirtschaft haben immer schon die Natur beobachtet, um Sä- und Erntezeiten sowie den richtigen Zeitpunkt für Feldarbeiten und Pflanzenschutz­maßnahmen zu bestimmen. Imker richten sich in der Platzierung ihrer Völker nach phänologischen Jahreszeiten, damit den Bienen das größtmögliche Pollen- und Nektarangebot zur Verfügung steht. Und auch für Gartenarbeiten ist die Naturbeobachtung unerlässlich. So können zum Beispiel Gemüse wie Erbsen und Möhren ausgesät werden, wenn der Huflattich blüht. Steht die Forsythie in Blüte, ist der beste Zeitpunkt für den Rosenschnitt und das Setzen von Stauden. Beginnen die Apfelbäume zu blühen, kann getrost der Rasen ausgesät werden, denn jetzt keimen die Gräsersamen besonders gut. Geht die Apfelblüte zu Ende, dürfen wärmebedürftige Gemüse und Sommerblumen in den Boden. Diese Regeln sind deshalb so praktisch, weil sie für Gegenden mit mildem Klima genauso gelten wie für raue Landstriche.

Klimawandel & Gesundheit

Besonders hilfreich sind die phänologischen Beobachtungen der Sofortmelder für Allergiker. Die Pollenflugvorhersage des Deutschen Wetterdienstes stützt sich unter anderem auf diese Meldungen. Anhand der Daten zeigt sich, so Meteorologin Christina Endler vom Zentrum für Medizin-Meteorologische Forschung des DWD in Freiburg, dass die Hasel- und Erlenblüte und somit auch der Pollenflug in Baden-Württemberg inzwischen drei Wochen früher einsetzt und – je nach Wetterlage – auch länger andauern kann. Eine Tatsache, die Pollen-Geplagte auf keinen Fall überraschen wird.

Die phänologischen „Uhren“

Die phänologischen „Uhren“ gehen in beiden Naturräumen deutlich anders als früher: Während der Vorfrühling in der Freiburger Bucht im Zeitraum von 1991 bis 2020 (innerer Ring, rote Schrift) im Durchschnitt am 29. Januar begann, trat er in den 30 Jahren zuvor (äußerer Ring, schwarze Schrift) erst am 13. Februar ein.

Gab es auch früher schon vereinzelt einen vorzeitigen Blühbeginn der Hasel, ist dieser heutzutage die Regel. Die Vegetationsphase ist in unseren Breiten um zwei bis drei Wochen länger geworden und der Winter deutlich kürzer. Im Bereich der Freiburger Bucht und des mittleren Schwarzwaldes – so zeigen die beiden Infografiken des DWDs  – beginnen alle Jahreszeiten außer Spätherbst und Winter früher als in den 30 Jahren zuvor. Diese deutlichen Veränderungen gegenüber früheren Jahren lassen sich an den phänologischen Aufzeichnungen wunderbar ablesen. Diese handfesten Daten tragen dazu bei, relativ zuverlässige Aussagen zur Entwicklung des Klimawandels treffen zu können.

Fotos: © iStock/jojoo64; iStock/gubernat; iStock/Ilmar Idiyatullin

Grafik: © Deutscher Wetterdienst