An der Grenze: Wie sich Nicole Lapp für ukrainische Geflüchtete einsetzt STADTGEPLAUDER | 24.06.2022 | Helena Müller

Mit einem Konvoi zur Grenze: Nicole Lapp (Zweite von rechts) und ihre Kolleg·innen aus Freiburg

Was passiert hier? Das war der erste Gedanke von Nicole Lapp, als sie von den Angriffen russischer Truppen Ende Februar auf die Ukraine erfährt. Dass sie helfen muss, wurde schnell klar. Die Freiburgerin gehörte zu den Ersten, die sich auf die weite Reise zur ukrainischen Grenze gemacht haben. Dem chilli erzählt die 40-Jährige, wie es dazu kam und wie sie das an ihre Grenzen brachte.

Zweifel auf der Fahrt

Die Stimme ist fest, als sie vom ersten Hilfstransport erzählt. Nicole Lapp steht hinter der Sache. Ihr Engagement lässt daran keine Zweifel: Kaum zwei Wochen nach Ausbruch des Krieges sitzt sie mit anderen Helfer·innen in drei gesponsorten Kleinbussen auf dem Weg zur polnisch-ukrainischen Grenze. Mehr als 1300 Kilometer Weg liegen vor ihnen. Mit nur einem Ziel: so viele Menschen wie möglich in Sicherheit bringen.

Während der Konvoi ungeteerte Straßen mit tiefen Schlaglöchern entlangfährt, kommen Lapp Zweifel: Findet man sich wirklich? Dennoch ist klar: „Es fühlt sich komisch an, aber wir wollen helfen. Also machen wir das jetzt.“ Erschöpft und erleichtert in Mlyny an der polnisch-ukrainischen Grenze angekommen, finden sie ein ehemaliges Einkaufszentrum vor, welches zu einem Flüchtlingscamp umfunktioniert wurde. Dort steht Feldbett neben Feldbett. Panzer fahren umher, die Soldaten sind schwer bewaffnet. Ihre Schilder mit der Aufschrift „nach Freiburg“ helfen, Personen zu finden, die mit ihnen zurückfahren.

Tränenreiche Rückkehr

Nicole Lapp Direkthilfe Ukraine

Setzt sich ein: die Eventmanagerin Nicole Lapp

Nach nur wenigen Stunden geht die lange Fahrt wieder los. Mit dabei sind 17 Gerettete – darunter fünf Kinder. Die Ukrainer·innen haben ihr Hab und Gut in Koffern, Plastiktüten und Taschen verstaut. Die Geflüchteten sind geschockt, schauen sekündlich auf ihr Handy, ob sich die Verwandtschaft in den bombardierten Regionen gemeldet hat. Das ist einer der Gründe, warum Lapp niemals zögert: „Wenn bei uns so was passiert, dann will man auch Hilfe bekommen.“

Unter Tränen erzählt sie in einem Instagram-Video, wie am Tag nach der Ankunft in Freiburg alle erdenklichen Emotionen aufeinanderprallen. Das Gefühlschaos sei „herzzerreißend“. Ein besonders prägender Moment für sie war, als eine Familie nach Tagen der Trennung wieder vereint ist. Freude, Wut, Trauer. Auch das gehört dazu: Es ist nicht nur die Zeit, die Helfer·innen aufopfern. Das Engagement belastet auch die Psyche. Schlimm wird es für Lapp, als sie direkt nach der Fahrt aus Polen in Quarantäne muss. Sie hat keine Möglichkeit, sich direkt mit nahestehenden Menschen auszutauschen. Den Prozess der emotionalen Verarbeitung muss sie alleine durchstehen.

Telefon im Dauereinsatz

Dann wartet die nächste Herausforderung auf die Helfer·innen: Sie müssen Unterkünfte finden. Zu Beginn gibt es keinen Dachverband, der sich um alles kümmert. Also müssen die Helfenden selbst ran. Durch Kontakte kommt der Stein ins Rollen. Unzählige Anrufe gehen bei ihr ein, weil sie eine der Ansprechpartnerin für alle ist. Erst nach und nach wird das zum Selbstläufer, berichtet die aufgeschlossene Frau. Vor allem der erste Ansturm an Hilfsbereitschaft hat sie überwältigt.

Mit der Zeit gruppiert sich durch den Stadtrat Simon Walderspuhl die Direkthilfe Ukraine. Sie baut ein Netzwerk auf: Einige übernehmen die Aufgabe der Wohnungssuche, andere begleiten die angekommenen Geflüchteten zu Amtsbesuchen, wieder andere vermitteln Jobs oder Dolmetscher. Lapp ist für die Koordination zuständig. Über eine Telegram-Gruppe stehen sowohl die Flüchtlinge als auch die Helfer·innen im Austausch.

„Es ist eine Pflicht“

Die Organisation ist für Lapp ein unbezahlter Full-Time Job. Das nimmt sie in Kauf. Dass sie rund um die Uhr verfügbar sein kann, hat zwei Gründe: Zum einen macht sie sich zu der Zeit als Eventmanagerin selbstständig. Zum anderen sieht sie keine Alternative: „Es ist eine Pflicht, Menschen vor dem katastrophalen Krieg zu schützen, in dem man ihnen in Freiburg eine sichere Unterkunft anbietet.“ Über einen Monat ist sie bis an ihre Grenzen engagiert, bevor es auch für sie ruhiger wird.

Drei Monate später: Inzwischen sind weitere Konvois an die Grenze gefahren. Ebenso ein durch Spenden organisierter Krankenwagen mit medizinischer Versorgung. Lapp ist zurück in ihrem Job als Eventmanagerin. Sie bekommt zwar weiterhin täglich Anrufe, aber nicht mehr stündlich. Auch hat mittlerweile jeder Helfende seinen Aufgabenbereich. Dadurch wird nicht mehr alles über sie abgewickelt. Die Direkthilfe Ukraine beobachtet: Die Rückreise-Anfragen sind derzeit höher als die der Anreise. Die meisten wünschen sich zurück an den Ort, den sie ihre Heimat nennen. Obwohl noch Krieg herrscht. Andere wollen wiederum hierbleiben, da sie sich eingelebt haben und überrascht von der Herzlichkeit und Offenheit der Deutschen sind.

Ob sie sich als Retterin sieht? „Nein“ sagt sie und lacht. „Gerettet haben sich die Menschen alleine, wir haben nur geholfen.“

Spendenkonto

Urbanes Freiburg e.V.
DE92 6805 0101 001 9188 59
„Direkthilfe Ukraine“

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