„Militärisches Musterländle“ Südbaden STADTGEPLAUDER | 14.05.2022 | Philip Thomas

Bewaffnete Soldaten

Nachkriegsdeutschland bemüht das Mantra „Nie wieder Krieg“. Wirtschaftlich profitiert die Bundesrepublik jedoch von bewaffneten Konflikten: Sie ist der viertgrößte Waffenexporteur der Welt. In Baden-Württemberg produzieren knapp 120 Konzerne an 70 Standorten für die Rüstungsindustrie. Wo das Gerät landet, ist nicht immer nachvollziehbar. Experten vermuten aber, dass auch in der Ukraine Waffen aus dem Südwesten abgefeuert werden.

Vergangenes Jahr genehmigte die vorherige Bundesregierung Waffen-Exporte im Wert von rund neun Milliarden Euro – so viel wie noch nie. Das meiste Gerät, darunter Luftabwehrsysteme und Fregatten, landete laut dem Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) in Ägypten. Einem Land, das nicht nur bekannt ist für Pyramiden, sondern auch für Menschenrechtsverletzungen. Vielleicht auch deswegen schrieb sich die neue Ampelregierung eine „restriktivere Rüstungspolitik“ in den Koalitionsvertrag. Man setze sich ein für ein nationales Rüstungsexportkontrollgesetz. Schaffen soll es sowohl Transparenz als auch Reglementierung.

Allerdings: In Deutschland entscheidet der Bundessicherheitsrat (BSR) über Rüstungsexporte. Und dieser tagt geheim. Zwar muss der BSR den Bundestag seit 2014 über Art, Umfang und Empfängerland des Exports „unverzüglich unterrichten“. Zu Fragen rund um den Sicherheitsrat darf die Öffentlichkeit vom Bundestag jedoch nicht informiert werden. „So können deutsche Kriegswaffen in beträchtlichem Umfang quasi ganz legal an zahlreiche menschenrechtsverletzende Staaten geliefert werden“, erklärt der Freiburger Jürgen Grässlin, Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft.

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Deutsche Rüstungsexportberichte nennen in vielen Fällen lediglich den Waffentyp, dessen Export genehmigt wurde. „Zum Beispiel Panzer oder Gewehre“, so Grässlin. Lediglich Großwaffensysteme, deren Ausfuhr dem Waffenregister der Vereinten Nationen unterliegt, bildeten die Ausnahme. Laut dem Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI stehen auf den Lieferscheinen deutscher Waffenfirmen neben anderen NATO-Mitgliedern wie den USA oder Spanien auch die Türkei und die Vereinigten Arabischen Emirate.

Laut Andreas Seifert, Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung (IMI) mit Sitz in Tübingen, ist der Export von Waffen in der Regel keine Frage von Wirtschaft, sondern von Politik: Das Gros der gefährlichen Güter unterliegt daher dem sogenannten Kriegswaffenkontrollgesetz. „Wer Waffen exportieren möchte, muss beim Bundeswirtschaftsministerium anfragen“, erklärt der 55-Jährige. Dabei wird auch der Endverbleib geklärt. Nicht immer sei dieser eindeutig: „Abhörsoftware kann beispielsweise zur Kriminalitätsbekämpfung eingesetzt werden – oder gegen arglose Bürger.“

Raketen vom Bodensee in die Ukraine?

In jedem Falle ist es ein lukratives Geschäft – oft mit dem Tod. „Diese Industrie hat ausschließlich Staaten zum Kunden“, kommentiert Seifert. Laut SIPRI setzten die 100 größten Waffenhersteller im Jahr 2020 trotz Pandemie weltweit 470 Milliarden Euro um. „Gemessen an dem, was Deutschland insgesamt exportiert, ist die Waffenindustrie aber eine kleine Nummer“, sagt Seifert. Auch volkswirtschaftlich sei diese Branche vernachlässigbar. Ein BMWK-Bericht aus dem Jahr 2014 taxiert den deutschen Branchenumsatz auf 20,4 Milliarden Euro. Insgesamt 65.700 Beschäftigte zählt der Sektor hierzulande. 

Viele von ihnen arbeiten im Südwesten, zahlreiche Waffenschmieden haben einen Sitz in Baden-Württemberg. Knapp 70 solcher Standorte zählt die IMI. Hinter hohen Mauern und Zäunen arbeiten demnach rund 120 Firmen direkt oder als Zulieferer für die Waffenindustrie. 

„Das ist ein verwobenes Konstrukt, eine Besonderheit dieser Industrie“, sagt Seifert. Die Firmen seien stark spezialisiert: „Panzer und Flugzeuge bestehen aus unendlich vielen Komponenten. Und alles muss einzeln zertifiziert werden. Die Frage ist jedoch nicht, wo Waffen in Baden-Württemberg produziert werden. Interessant ist, wer in die Produktion involviert ist – und in welche Projekte.“ 

In Freiburg etwa ist das Unternehmen Litef ansässig. Laut SIPRI gehört es zum fünftgrößten Militärunternehmen der Welt: Northrop Grumman. Vergangenes Jahr setzte der US-Konzern rund 35 Milliarden Euro um. Litef entwickelt Navigationssysteme für Heer, Luftwaffe und Marine. „Litef-Produkte sind weltweit im Einsatz, das Anwendungsspektrum reicht von der zivilen und militärischen Luftfahrt über Land- und Marineanwendungen bis hin zu industriellen Applikationen“, so Silvia Puckl, Team Leader Marketing und Communications.

Laut IMI werden Litef-Systeme auch in Lenkwaffen eingesetzt und sind unter anderem im „Meteor“-Flugkörper verbaut, mit dem auch der Eurofighter bestückt ist. Der Trend geht Richtung Hightech und Software. „Früher gab es in Deutschland 15.000 Panzer, heute sind das ein paar Hundert“, so Seifert.

Friedensaktivist Jürgen Grässlin

Friedensaktivist Jürgen Grässlin: „Menschen werden jeden Tag verstümmelt, verkrüppelt und traumatisiert“

Kann Kriegsmaterial in diesem Netz aus Produzenten und Lieferanten verloren gehen? „Schon um Unfälle zu vermeiden, ist jede Patrone exakt dokumentiert“, sagt Seifert. Was nach der Produktionsphase passiert, steht jedoch auf einem anderen Blatt. „In den Rüstungsexportberichten der Bundesregierung kommt etwas Licht ins Dunkel deutscher Waffendeals. Jedoch bleibt vieles oberflächlich, manches fehlt völlig“, sagt Grässlin.

So stellte sich heraus, dass der norddeutsche Waffenhersteller SIG zwischen 2009 und 2011 mehr als 40.000 Pistolen an eine Schwesterfirma in die USA geliefert hatte. Davon wiederum gingen 38.000 Schießeisen nach Kolumbien. Genehmigt war allerdings nur die Ausfuhr in die Vereinigten Staaten. Der baden-württembergische Waffenhersteller Heckler und Koch lieferte zwischen 2006 und 2009 insgesamt 4219 Sturmgewehre sowie weiteres Material nach Mexiko. Wegen Menschenrechtsverletzungen hätte das nicht geschehen dürfen, urteilte das Stuttgarter Landgericht im Jahr 2019 und verhängte Bewährungsstrafen gegen zwei Ex-Angestellte. 

Werden im Krieg in der Ukraine Waffen aus Baden-Württemberg abgefeuert? „Es ist vorstellbar, dass die ein oder andere Rakete ihren Weg vom Bodensee nach Osteuropa gefunden hat“, sagt Seifert. Laut Grässlin spricht vieles dafür, dass Kriegswaffen und Rüstungsgüter „aus dem militärischen Musterländle Baden-Württemberg im Russland-Ukraine-Krieg zum Einsatz kommen“. Der 64-Jährige listet auf: Litef aus Freiburg stellt Navigationssysteme für Flugabwehrsysteme und Kampfpanzer her. Heckler und Koch exportiert Sturmgewehre auch ins Baltikum. Diehl BGT Defence mit Sitz in Überlingen am Bodensee exportiert jährlich Zehntausende Lenkflugkörper. 

Genau lassen sich die Wege der Waffen jedoch nicht nachzeichnen. Vieles unterliegt der Geheimhaltung. Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) betont, dass die Geheimniskrämerei auf Wunsch der Ukraine geschehe. Angreifer Russland solle keinen militärischen Vorteil schöpfen.

»Deutschlands tödlichstes Unternehmen«

Ob das von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wenige Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine angekündigte „Sondervermögen Bundeswehr“ von 100 Milliarden Euro der deutschen Rüstungsindustrie zugutekommt, ist für Seifert ebenfalls noch nicht klar. Der Rüstungskonzern und Autoteilelieferant Rheinmetall, der auch in Baden-Württemberg Standorte unterhält, rechnet aber bereits mit einem erfolgreichen Geschäftsjahr 2022: 15 bis 20 Prozent soll der Umsatz laut dem Vorstandsvorsitzenden Armin Papperger steigen. Im ersten Quartal stieg der Nettogewinn bereits um drei auf 61 Millionen Euro.

Bei Mitbewerber Heckler und Koch kletterte der Umsatz im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 22 Prozent auf 77,5 Millionen Euro. Für Grässlin sind das keine guten Nachrichten: „Gemessen an den Opferzahlen ist die Oberndorfer Firma zweifelsfrei Deutschlands tödlichstes Unternehmen“, betont er. Wie der Waffenhersteller Mauser produziert auch Heckler und Koch in Oberndorf – also im Regierungsbezirk Freiburg.

Laut Grässlin sterben in Kriegen und Bürgerkriegen jeden Tag durchschnittlich mehr als hundert Menschen durch Kleinwaffen aus Oberndorf oder einer Lizenzfabrik in etwa 15 Staaten: „Mehr als drei- bis vierhundert weitere Menschen werden jeden Tag mit Heckler-und-Koch-Waffen verstümmelt, verkrüppelt und traumatisiert.“ Das Waffenunternehmen selbst kommentiert diese Zahlen gegenüber business im Breisgau nicht. Unternehmenssprecher Marco Seliger gibt stattdessen zu Protokoll, dass „Heckler und Koch seine Waffen ausschließlich an Staaten der NATO und EU sowie der NATO gleichgestellte Länder sowie einige wenige sicherheitspolitische Partner Deutschlands liefert.“

Und es dürften mehr Lieferungen werden. Die Zeichen stehen auf Aufrüstung. Durch die vom Bundeskanzler am 27. Februar angekündigte „Zeitenwende“ wird Deutschland – rein rechnerisch – nach den Vereinigten Staaten und China zur drittgrößten Militärmacht der Welt aufsteigen. Seifert sieht in der Diskussion um Militär und Waffen bereits jetzt ein Ungleichgewicht: Nach eigenen Angaben investierten NATO-Mitglieder 2020 insgesamt 1106 Milliarden Dollar in ihr Militär. China gab laut SIPRI umgerechnet 252 Milliarden Dollar aus, Russland schätzungsweise 61 Milliarden Dollar.

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