Armut in Freiburg – Trotz Wohlstand kämpfen Tausende Freiburger jeden Tag um das Nötigste Politik & Wirtschaft | 19.02.2020 | Philip Thomas

Kind vor leerem Kühlschrank

Beschaulicher Breisgau? Rund 37.000 Menschen sind nach Angaben des Sozialdezernats in Freiburg von Armut bedroht. Knapp 23.000 beziehen Sozialleistungen. Private und staatliche Instanzen wie Schuldenberatung, Tafel, Jugendhilfe und die Obdachlosennotaufnahme helfen nach Kräften.

Freiburg ist vergleichsweise wohlhabend, „aber es gibt auch diese andere Seite“, sagt eine Expertin. Trotz starker Konjunktur ist ein Ende der Armut nicht in Sicht. Im Gegenteil: Viele Zahlen steigen bedrohlich.

Marktführer aus der Industrie, weltweit agierende Dienstleister und modernste Forschung: Süddeutschland steht im Ruf, besonders wohlhabend zu sein. Immerhin lag der durchschnittliche Bruttolohn in Baden-Württemberg 2018 laut den statistischen Ämtern von Bund und Ländern bei 37.818 Euro. Mehr Gehalt gab’s in Deutschland nur in der Hansestadt Hamburg (41.785 Euro). Die Armutsquote lag 2018 indes bei 11,9 Prozent und damit unter dem Bundeschnitt von 15,5 Prozent. Im Gegensatz zu Zahlen auf einem Gehaltscheck lässt sich Armut aber nur schwer ablesen. Definitionen gibt es viele: Die Weltbank bezeichnet Menschen als arm, wenn sie weniger als 1,90 Dollar pro Tag zur Verfügung haben. Hunger, Krankheit, Angst und Ohnmacht beginnen aber schon davor und passen nicht in einen Taschenrechner.

In Freiburg ist fast jeder Sechste durch Armut gefährdet. Das geht aus Erhebungen des Sozialdezernats hervor. Dazu zählt, wer ein Einkommen von weniger als 1080 Euro hat. „Die allermeisten Menschen haben hier sicher keine goldenen Wasserhähne zu Hause“, so Erster Bürgermeister Ulrich von Kirchbach. 142,8 Millionen Euro Sozialhilfe gewährten die Freiburger Ämter ihren Bewohnern im Jahr 2018. Das Geld verteilt sich auf mehr Bedürftige, als man bei der Anzahl der Boutiquen an der Kaiser-Joseph-Straße vermuten könnte: „Fasst man die Leistungen zusammen, erhält etwa jeder zehnte Freiburger eine Sozialleistung“, so von Kirchbach.

Manchmal sei die Unterstützung mit bürokratischen Hürden verbunden. „Ich wünsche es mir einfacher“, so der Bürgermeister. Als positives Beispiel nennt er die Schuldenberatungsstelle der Stadt im Stühlinger. In der Beratung wurden vergangenes Jahr 350 Freiburger beraten, davor waren es noch 300. Rund ein Drittel aller Beratungen drehen sich um Summen unter 5000 Euro. Ein weiteres Drittel häuft einen Schuldenberg von bis zu 15.000 Euro an. Für ein Gespräch ist allerdings nur zugelassen, wer Arbeitslosengeld II, mithin Hartz IV bezieht. „Menschen, die keine Leistungen vom Amt beziehen, muss ich wieder wegschicken“, sagt Claudia Schätzle von der Schuldenberatungsstelle. Vor allen, die mit dem Regelsatz von 432 Euro im Monat auskommen, habe sie großen Respekt. „Eine einfache Tasse Kaffee ist da nicht drin“, so die 59-Jährige.

» Es gibt diese andere Seite «

Einige verschulden sich bereits in jungen Jahren: Mehr als die Hälfte ihrer Besucher ist zwischen 26 und 45 Jahre alt. Jeder Zweite ist ledig. Nur rund 13 Prozent der Schuldner haben keinen Abschluss, ein Drittel hat mindestens die Hauptschule durchlaufen. Die Ursachen der Schulden seien vielfältig, oftmals spielten aber Krankheit, Drogen oder Konflikte mit dem Gesetz eine Rolle.

Die Probleme werden laut Schätzle oft verschleppt. „Irgendwann werden Briefe nicht mehr geöffnet“, so die Betriebswirtin. Sie muss neben den Schulden erst einmal Ängste abbauen. Es brauche Mut, um zur Beratung zu kommen: „Viele schämen sich, über Geld spricht man schließlich nicht.“ Zwar sei Freiburg vergleichsweise wohlhabend, „aber es gibt auch diese andere Seite.“ Der Schein ist trügerisch: Laut einer 2015 vom Statistischen Landesamt Baden-Württemberg veröffentlichten Studie, lag das in Freiburg verfügbare Pro-Kopf-Einkommen bei jährlich 18.890 Euro. Darunter steht von allen Stadtkreisen im Bundesland bloß Mannheim (18.600 Euro). Um Schuldner zu entlasten, vereinbart sie Raten von drei Monaten bis zu drei Jahren. Die Einsparungen der Schuldner treffen jeden Bereich, für Lebensmittel bleibt oftmals nicht viel übrig: „Ich verweise dann oft auf die Freiburger Tafel.“ 

3000 Haushalte mit knapp 7000 Menschen aus mehr als 60 Nationen sind heute dort registriert. Deutschlandweit suchten 2018 rund 1,5 Millionen Menschen eine Tafel auf. Vergangenes Jahr waren es 1,65 Millionen. Bundesweit, wie auch in Freiburg, bezieht rund die Hälfte von ihnen Arbeitslosengeld. Das Angebot der Tafel ist hingegen spendenfinanziert, Gelder von der Stadt gibt es nicht.

Die Lebensmittel in der Freiburger Tafel bei der Knopfhäuslesiedlung am Alten Messplatz sehen aus wie aus dem Supermarkt. Die meisten sind es auch: 62 Tonnen sammeln drei Kühlfahrzeuge jeden Monat ein. „Die Idee ist, Lebensmittel zu retten“, sagt Tafel-Leiterin Anne-Catrin Mecklenburg. Und damit indirekt auch Menschen zu helfen. Auf rund 140 Quadratmetern finden sie einen kleinen Bäcker, eine große Kühltheke und dazwischen hohe Regale. Nicht immer sind sie gefüllt. „Leider bekommen wir oft nicht die Menge, die wir uns wünschen“, so die 44-Jährige. Kostenlos sind die vorhandenen Lebensmittel nicht: Wurst, Käse, Obst, Gemüse, Reis, Kartoffeln und Brot sind mit zehn Prozent ihres Marktpreises veranschlagt. „Die Besucher sollen nicht als Bittsteller kommen, sondern als Kunden“, erklärt der Ehrenamtliche Wendelin Schäuble.

Um sich bei der Tafel registrieren zu können, darf einem Einzelhaushalt maximal 1000 Euro zur Verfügung stehen. Bei Familien mit vier Kindern und zwei Erwachsenen sind es 2100 Euro. Kenan S. (Name geändert) und seine Familie leben von weniger. Bei Minusgraden wartet er an einem Januarmorgen mit etwa 50 anderen Freiburgern vor dem Eingang. Der 27-jährige Algerier lebt seit vier Jahren mit seiner marokkanischen Frau und drei Kindern in Deutschland.

Zahlen zur Armut in Freiburg

Um seine Familie über Wasser zu halten, habe er zuletzt bei BMW Nobelkarossen geputzt. Er und seine Lieben leben von monatlich 1250 Euro. „Das ist nicht viel“, so der „Geduldete“. Ein bisschen mulmig sei ihm vor der Tafel schon, „aber das ist gut für meine Familie.“ Der Vater ist auf die Tafel angewiesen. Bei einem vergleichbaren Einkauf im Discounter seien für die gleiche Menge Lebensmittel schnell 50 Euro weg.

Einige Tafelbesucher haben nicht mal das in der Tasche. Armut ist ein dynamischer Prozess und keine Eigenschaft. Am Ende steht oft die Wohnungslosigkeit. 2018 zählte die Stadtverwaltung 1641 Menschen, die in Freiburg von Obdachlosigkeit betroffen waren. 50 bis 90 von ihnen lebten offen auf den Straßen der Stadt. Als Kommune hat jedoch auch Freiburg eine Unterbringungspflicht. Die Notunterkunft „Oase“ in Haslach kostete das Rathaus in dem Jahr knapp 850.000 Euro. 2012 war Claudius Heidemann in der Unterkunft mit 12 Kollegen gestartet, heute zählt der Abteilungsleiter 34 Mitarbeiter.  „Wir finden politisches Gehör“, sagt er. Neben einer Notunterkunft der Caritas mit 30 Plätzen gibt es im Stadtgebiet ab März nach einer Neueröffnung insgesamt 580 Wohnheimplätze. Darunter auch 200 für Familien mit Kindern. Laut Bernd Klippstein, Leiter der Freiburger Straßenschule, dürfe es minderjährige Wohnungslose gesetzlich gar nicht geben. „Die gibt es aber“, betonte Klippstein auf einer Podiumsdiskussion im November. Zu 450 bis 500 von ihnen hat seine Einrichtung jährlich Kontakt. Sie sind 15 bis 27 Jahre alt. Die Ursachen für diese Form der Armut liegen laut Rainer Luithardt, Abteilungsleiter bei der Freiburger Arbeiterwohlfahrt (AWO), oft im Elternhaus. Häufige Faktoren seien Arbeitslosigkeit, psychische sowie Suchterkrankungen oder ein geringes Einkommen.

Immer mehr Psychische Probleme

„Armut ist auch ein logistisches Problem“, erklärt Heidemann in der Aufnahmestelle weiter. Jobcenter und Sozialarbeit, etwa zur Gewaltprävention, liegen bei der Oase deswegen direkt im Haus. In den vergangenen acht Jahren habe er bei den Wohnungslosen in Freiburg vermehrt psychische Probleme festgestellt. Um Sozialleistungen beantragen zu können, braucht es auch einen Briefkasten. In der Notunterkunft gibt es deswegen Postersatzadressen und auch einen Abstellraum für die persönliche Habe. Viele kommen in die Unterkunft allerdings nur mit dem, was sie am Körper tragen. Die Ankömmlinge bekommen dann eine heiße Suppe und ein Stück Seife.

Im Keller versperrt eine Matratze den Weg zum Waschraum, darauf liegt ein schlafendes Pärchen. „Auch das ist Armut“, kommentiert Heidemann. Nicht alle der offiziellen 47 Betten in der Notunterkunft sind belegt. Dabei steigt die Anzahl der Übernachtungen seit Jahren kontinuierlich an: 2015 waren es rund 16.000, 2018 suchten schon mehr als 23.000 Menschen an der Haslacher Straße Schutz. „Das Ziel sind aber nicht mehr Plätze, sondern die Menschen in Mietverhältnisse zu bringen“, sagt Heidemann. Er bemerke eine Verdrängung im Freiburger Mietmarkt. Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum sei ein Problem, das bereits in Teile der Mittelschicht eingreife. „Wenn die Menschen 40 Prozent oder mehr ihres Einkommens für eine Wohnung abdrücken müssen, bleibt wenig Geld für anderes“, bestätigt von Kirchbach.

2018 stellte die Freiburger Stadtbau GmbH 55 Bleiben für bis dato Wohnungslose zur Verfügung. 120 Personen konnten damit aus der Obdachlosigkeit geführt werden. „Die meisten hier tun alles, um nicht als obdachlos zu gelten“, sagt Heidemann. Nicht jeder schafft diesen Sprung. An der dritten Zimmertür im Erdgeschoss der Oase kleben Überreste eines Polizeisiegels. „Vergangenen Monat ist in dem Zimmer ein Mann gestorben“, so Heidemann. Jedes Jahr sterben in Freiburg etwa zehn Menschen, die keinen festen Wohnsitz haben. Die durchschnittliche Lebenserwartung auf der Straße liegt bei 50 Jahren – 25 bis 30 Jahre weniger als bei Menschen mit Dach über dem Kopf. Eine andere Seite im nur scheinbar beschaulichen Freiburg.

Foto: © iStock.com/chameleonseye