Agraröde: Ernährungsrat will mehr regionale Lebensmittel auf den Teller bringen Szene | 17.07.2018 | Tanja Senn

Jede zweite Weinflasche, jedes siebte Gemüse und jedes vierzehnte Schweineschnitzel – insgesamt stammt nur jedes fünfte Lebensmittel, das in den Einkaufstaschen der Freiburger landet, aus der Region.

Daran wollen immer mehr lokale Initiativen etwas ändern. Erstmals sollen all diese Akteure nun vernetzt werden: Mitte Juli will sich ein Ernährungsrat aus Landwirten, Gastronomen oder Verwaltungsmitarbeitern gründen. Auch die Uni Freiburg erforscht in einem millionenschweren Mammut-Projekt, wie sich Ernährung auf kommunaler Ebene beeinflussen lässt.

„Hört ihr das“, fragt Otmar Binder und schneidet mit einem kleinen Küchenmesser in die Knolle. Ein leises Knirschen ertönt. „Wenn sich die Kartoffel so anhört, ist sie noch nicht reif.“ Interessiert beugt sich die Gruppe näher. 15 junge Freiburgerinnen und Geflüchtete stehen auf dem Acker des Forchheimer Lindenbrunnenhofs und lauschen den Ausführungen des Landwirts.

Die gleißende Sonne und die hochsommerlichen Temperaturen dämmen ihr Interesse nicht: Schließlich ist die Gruppe vor ein paar Monaten selbst unter die Kartoffelbauer gegangen. Beim Freiburger Projekt „zusammen kartoffeln“ bauen sie die Erdäpfel selber an, entwickeln ein eigenes Rezept für Pommes mit veganer Mayo und Ketchup und wollen dieses Produkt dann auf regionalen Festivals anbieten.

»Welternährung geht auch ohne Industrie«

„Wir wollen bei unseren Projekten sozial, ökonomisch und ökologich arbeiten“, erzählt die Projektkoordinatorin Johanna Dangel vom gemeinnützigen Verein „zusammen leben“. „Da bietet sich das Thema Ernährung einfach an.“ Schließlich verbindet Essen nicht nur, in Sachen regionale Ernährung hat Freiburg auch noch kräftig Nachholbedarf. So zeigt eine vom Rathaus in Auftrag gegebene Studie: Gerade einmal zwölf bis zwanzig Prozent aller Lebensmittel, die in Freiburg konsumiert werden, kommen aus der Region. Dabei schwankt der Anteil je nach Produkt stark: So kommt zwar jedes zweite Milchprodukt von hier, aber nur acht Prozent des Obstes stammen aus dem Regierungsbezirk.

Um diesen Anteil deutlich nach oben zu schrauben, will sich beim Agrikulturfestival vom 22. bis 24. Juli der erste Freiburger Ernährungsrat gründen. Wie groß das Interesse daran ist, hat bereits eine Auftaktveranstaltung Ende April gezeigt. Als Anna Wissmann auf die Bühne kommt, ist im Vorderhaus auch der letzte Stuhl belegt. Auf der Treppe sitzen die Zuhörer dicht an dicht und fächeln sich Luft zu, während die Kölnerin erzählt, wie sich vor zwei Jahren in der Rheinmetropole ein Ernährungsrat gegründet hat.

Landwirt Otmar Binder (links) gibt sein Wissen über die tollen Knollen aus der Region weiter.

Menschen, „die in dieser Form normalerweise nicht zusammensitzen würden“, wollen in diesen Räten auf kommunaler Ebene Ernährung gestalten. Pädagogen, Stadträte, Gastronomen, Wissenschaftler oder Händler greifen dafür in Köln in die Ausschreibungen für die Kitaverpflegung ein, organisieren Touren für Gastronomen zu regionalen Höfen oder legen Gemeinschaftsgärten an.

Doch lässt sich damit tatsächlich Ernährung im großen Stil ändern? „Welternährung hängt nicht von der Industrie ab“, betont Wissmann. „Das sieht man allein daran, dass Kleinbauern auf 30 Prozent der Ackerfläche 70 Prozent aller Lebensmittel erzeugen. Trotzdem fließen die meisten Subventionen in die industrielle Landwirtschaft.“

Damit auch in Freiburg ein Ernährungsrat an den Start gehen kann, müssen zunächst noch Struktur und Finanzierung geklärt werden. Eine Initiative trifft sich dafür regelmäßig. So soll es neben einem SprecherInnen-Kreis fünf Arbeitsgruppen zu Themen wie „Nachhaltige Außerhausverpflegung“, „regionale Direktvermarktung“ oder „Energie und Ressourcen“ geben. Die Schwierigkeit: Nicht nur die Menschen zu erreichen, die sich sowieso in dem Bereich engagieren. „Bisher machen vor allem Leute mit, für die das Thema Nachhaltigkeit jetzt schon eine Rolle spielt“, gibt Lea Bartels vom Koordinationsteam zu, „aber wir arbeiten daran, auch andere Akteure einzubinden.“

Früchte aus Griechenland statt aus Buchholz: 92 Prozent des Obstes, das in Freiburg gegessen wird, stammt nicht aus der Region.

Um tatsächlich beeinflussen zu können, wie sich eine Stadt ernährt, müssen all die einzelnen Akteure und Initiativen gebündelt werden. Dieser Meinung ist auch Heiner Schanz. Er ist Leiter des mit 1,1 Millionen Euro geförderten Projekts KERNiG, an dem unter anderem die Universitäten in Freiburg, Kassel und Friedrichshafen beteiligt sind. In einer dreijährigen Studie wollen die Wissenschaftler herausfinden, ob Städte etwas daran ändern können, wie sich ihre Bewohner ernähren. Ein Thema, das laut Schanz noch keine deutsche Stadt auf dem Schirm hat – und das noch nie so umfassend erforscht wurde.

„Kommunen engagieren sich sehr stark in den Bereichen Energie und Mobilität mit dem Ziel des Klimaschutzes“, so der Professor für Environmental Governance. „Das Thema Ernährung wird ausgeblendet und das, obwohl es ein Drittel des ökologischen Fußabdrucks verursacht, mehr als die beiden anderen Bereiche zusammen.“

»Das hat so noch niemand versucht«

Auch Freiburg mache da keine Ausnahme: Zwar sei die Studie, die erforscht hat, wie sich die Stadt ernährt, ein erster Schritt gewesen, „doch leider hat man dann nicht weitergemacht“. Der Freiburger Professor und sein Team haben ihre Heimatstadt allerdings bewusst nicht als Modellregion gewählt. Stattdessen haben sich mit Waldkirch im Breisgau und Leutkirch im Allgäu zwei Kleinstädte das Thema auf die Fahnen geschrieben. „Wenn man Nachhaltigkeit debattiert, spricht man immer über Freiburg“, so Schanz. „Die Lebensrealität der Deutschen prägen aber Städte bis 50.000 Einwohner. Hier wohnen 60 Prozent der Menschen.“

Beide Gemeinden haben im ersten Projektjahr konkrete Maßnahmen entwickelt, die sie nun umsetzen wollen. „So einen Maßnahmenplan hat weder Freiburg noch irgendeine andere deutsche Stadt“, stellt Schanz dessen Bedeutung heraus: „Das hat so noch niemand versucht.“ Dabei habe das Thema Ernährung Bezüge zu zahlreichen kommunalen Themen vom Tourismus über Gesundheit bis hin zu sozialer Integration.

Davon ist auch der Verein „zusammen leben“ überzeugt. Gemeinsam mit den Neu- und Alt-Freiburgern stehen Dangel und Binder auf einer der riesigen Erntemaschinen des Lindenbrunnenhofs und sortieren Kartoffeln. Knollen mit grünen Stellen oder hässlichen Malen landen wieder auf dem Acker, alle anderen dürfen weiter über das Förderband rattern. Der Landwirt gibt dabei wichtige Tipps zu Anbau und Pflege der „globalisierten Globetrotterin“ Kartoffel. Schließlich soll es beim Freiburger Agrikulturfestival neben der Gründung des Ernährungsrats ein weiteres Novum geben: die ersten selbst gemachten Pommes von „zusammen kartoffeln“.

Fotos: © tas