Zwei Pädophile erzählen von Kinderliebe, Stigmatisierung und fehlender Hilfe STADTGEPLAUDER | 20.04.2018 | Till Neumann
Pädophilenring zerschlagen.“ Das meldete die Polizei am 11. Januar. Ermittlern war es gelungen, einen „menschenverachtenden“ Missbrauchsfall aufzudecken. Die Geschichte des auch für Geld missbrauchten Neunjährigen aus Staufen ist unfassbar grausam. Doch mit der Formulierung „Pädophilenring“ ist der Staatsanwaltschaft ein Fehler unterlaufen: „Eine Schwachsinnsmeldung“, schimpft Jens Wagner von der Berliner Charité. Denn Pädophile sind nicht gleich Vergewaltiger von Minderjährigen. Das zeigen auch die Geschichten von Max und Daniel (Namen geändert). Die zwei jungen Männer sind pädophil, aber keine Straftäter.
Die Pressemitteilung vom zerschlagenen Pädophilenring machte schnell die Runde. Nicht nur die Badische Zeitung oder der SWR verbreiteten den Ermittlungserfolg im Wortlaut. Auch Überregionale wie tagesschau.de oder Focus online sprangen auf den Zug auf. Dass sie mit dem Wort „Pädophilenring“ Unschuldige mit Tätern gleichsetzen, war den Redakteuren offenbar unklar. Bei den zu Unrecht Beschuldigten war das Entsetzen dafür groß, wie Betroffene und Experten bestätigen.
So auch bei Daniel. Er ist Anfang 20 und steht auf Jungs. Ein Täter ist er deswegen nicht: „Ich bin bisher nicht straffällig geworden und habe es auch nicht vor“, sagt er. Seinen echten Namen möchte er nicht preisgeben. Genauso wenig wie seinen Wohnort. Zu groß ist die Angst, erkannt zu werden. Nur so viel ist klar: Er hat in Freiburg gelebt, wohnt nun in Nordrhein-Westfalen.
Anonym berichtet Daniel dafür von seiner sexuellen Neigung: „Ich finde Jungs total schön.“ Kindlicher Körper, blaue Augen, blonde Haare – das ist der Typ Junge, in den er „besonders verliebt“ ist. Er selbst sei optisch das komplette Gegenteil, habe sich schon immer gewünscht, anders auszusehen.
Schon in der 3. Klasse fühlte er sich von Jungs angezogen. Als Jugendlicher begann er, im Internet passende Fotos zu suchen. Legale Bilder, fernab von Pornographie, wie er betont. „Ich habe darauf onaniert, aber nicht darüber gesprochen“, sagt Daniel. Dann wurde ihm klar: Er ist pädophil. Das löste ein Wechselbad der Gefühle aus: „Scheiße, ich bin pädophil – nein, ich werde kein Straftäter!“
Kindern nichts anzutun, ist für ihn oberste Prämisse. Das geht so weit, dass er keine Nachrichten mehr liest. Denn Meldungen über Kinder in Not nehmen ihn mit. „Ich reagiere sehr emotional, bin dann tagelang depressiv, zu nichts zu gebrauchen.“ Typisch für Pädophile sei das nicht, er kenne keinen anderen, der so extrem sensibel reagiere.
Dennoch plagen ihn Gewaltfantasien. Also suchte er Hilfe bei Deutschlands größtem Präventionsnetzwerk für Pädophile: „Kein Täter werden“ (KTW). Kostenlos und anonym wird dort unter Leitung der Berliner Charité geholfen. Mit Erfolg: Laut einer KTW-Bilanz von 2016 ist keiner übergriffig geworden, nachdem er dort erfolgreich behandelt wurde.
Daniel kann dort keine regelmäßige Therapie machen – denn die nächste der elf KTW-Anlaufstellen in Deutschland ist zu weit entfernt, die Fahrten kostspielig: „Ich kann mir das nicht leisten“, sagt er. Ein Problem, das auch Freiburger trifft: Die nächste Anlaufstelle von „Kein Täter werden“ ist in Ulm. Ein weiteres Hilfsangebot gibt’s in Basel. Sonstige Angebote sucht man vergeblich.
Zu einem Therapeuten zu gehen, ist oftmals keine Option: „Die meisten haben keine Ahnung von Pädophilie, so was lernt man nicht an der Uni“, ärgert sich Daniel. Viele Therapeuten arbeiteten wenn dann forensisch, also mit übergriffigen Pädophilen. Auch von ihnen werde man schnell in eine Schublade gesteckt. Viel Ablehnung hat er auf der Suche nach Hilfe erlebt: „Oft wird man schief angeschaut.“ Dennoch hatte er Glück. Er fand eine Therapeutin, die ihn verstand. Sie brachte ihm bei: „Du bist normal.“
Gegen seine Gewaltfantasien nimmt Daniel mittlerweile das Medikament Salvacyl. Es senkt den Testosteronspiegel, bewirkt eine chemische Kastration. Außerdem hat er im Forum der Website „Schicksal und Herausforderung“ eine digitale Anlaufstelle gefunden. Dort tauschen sich Pädophile aus, die keine Täter werden wollen. Oberste Grundregel des Forums ist, „dass sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern niemals stattfinden dürfen“. Zwei Freunde hat Daniel dort gefunden. Und auch Max kennengelernt, der Administrator der Seite ist.
Schnell in Schublade gesteckt
Max ist Mittdreißiger, pädophil und lebt in Brandenburg. Gewaltfantasien wie Daniel hat er nicht, eher romantische Gefühle. Regelmäßig gibt er Interviews, um mit dem Zerrbild aufzuräumen. Auf der Seite „Schicksal und Herausforderung“ listen er und weitere Administratoren diffamierende Medienberichte über Pädophile. Dass auch im Fall Staufen Kinderliebe mit Missbrauch gleichgesetzt wird, ärgert ihn. Dennoch sagt er: „Man kann sich nicht über jeden Bullshit aufregen.“ Bei der Menge an Aufregern habe er sonst keine Zeit mehr für andere Dinge. Vieles, was geschrieben wird, findet er trotzdem haarsträubend. Vor allem wenn Pädophile als Vergewaltiger dargestellt werden. „Das Monster-Image wird so ausgebaut“, sagt Max.
Etwa 300.000 Männer leben in Deutschland mit Pädophilie, schätzen Experten. Mehr als die Hälfte von ihnen vergeht sich nicht an Kindern, vermutet der Basler Psychiater Marc Graf. Er sagt: Viele, die Kinder missbrauchen, sind nicht pädophil. Die Täter handeln aus anderen Gründen. Beispielsweise wegen antisozialer Tendenzen, Sadismus oder Machtsucht (siehe chilli-Interview zu Stigmatisierung).
Auch Max hat kein Kind missbraucht. Er macht sogar Babysitting, betreut zwei Kinder einer Freundin. Sie weiß, dass er pädophil ist, vertraut ihm. „Ich habe mich sehr vorsichtig rangetastet“, betont Max. Alle drei Wochen passt er auf die Kinder auf.
Daniel sucht ebenso die Nähe von Kindern. Er möchte Erzieher werden, ist überzeugt, dass ihm die Anwesenheit junger Menschen guttut. „Allein wegen meiner Gefühle werde ich nicht zum willenlosen Monster“, betont er. Auch ein anderer Fall ist dem chilli bekannt, bei dem ein Pädophiler als Erzieher arbeitet – ohne, dass der Arbeitgeber davon weiß. Für den Basler Psychiater Marc Graf ist diese Nähe ein „Spiel mit dem Feuer“.
Daniel wünscht sich rigorose Aufklärung. Und mehr Offenheit von Menschen, die Kinder lieben. „Pädos müssen aufhören, sich zu verstecken“, sagt er. „Wir sind ganz normale Menschen und müssen auch so behandelt werden.“ Mit dem chilli-Gespräch will er dazu beitragen, andere davon zu überzeugen. Mit Aufklärung sei vieles möglich: „Homosexuelle sind früher auch verachtet worden, heute ist das anders.“
Gemeinsam mit Max und weiteren Pädophilen geht Daniel noch einen Schritt weiter: Das Team wird Anfang 2019 den „Goldenen Pädobären“ verleihen. Der Antipreis soll an die Redaktion mit der schlechtesten Berichterstattung des Jahres 2018 gehen. „Wir wollen damit sagen: So nicht, Leute“, erklärt Max. Als nicht übergriffiger Pädophiler sei man bisher den Medien gegenüber immer in der Opferrolle. Jetzt wollen sie den Spieß umdrehen, um auf unsachliche und fachlich falsche Berichterstattung aufmerksam zu machen.
Beim Präventionsnetzwerk „Kein Täter werden“ dürfte der Goldene Bär auf Verständnis stoßen. Angesprochen auf die Meldung zum „Pädophilenring“ in Staufen reagiert Pressesprecher Jens Wagner prompt: „Das ist eine Schwachsinnsmeldung!“ Pädophilie sei eine Diagnose, kein Verbrechen.
Die Reaktion der Autoren? Verschickt hat die Meldung das Freiburger Polizeipräsidium. Dort heißt es, man solle im Landeskriminalamt nachfragen. Dort wiederum wird man an die Staatsanwaltschaft Freiburg verwiesen. Die dortige Pressestelle gibt schließlich eine Erklärung ab: Die Formulierung sollte „in der gebotenen Kürze“ den Sachverhalt erklären, stellt Sprecherin Martina Wilke klar. Und: „Eine Verwendung entsprechend streng medizinischer Kriterien war nicht beabsichtigt.“ Das klingt nach Erklärungsnot. Vielleicht hilft es, das Thema anders zu betrachten: Auch wer Erwachsene mag, ist nicht automatisch ein Vergewaltiger.
Prozess – Missbrauchsfall in Staufen
Neunjähriger wurde jahrelang gequält / Für Geld angeboten
Mindestens zwei Jahre lang soll ein Paar in Staufen einen Neunjährigen vergewaltigt haben. Die leibliche Mutter und ihr Lebensgefährte filmten die Taten und boten die Aufnahmen im Netz an. Sie gingen noch weiter: Das Kind sollen sie für Geld zum Missbrauch angeboten haben. Bei den Taten ihrer Kunden sollen sie teilweise mitgemacht haben.
Acht Personen aus dem In- und Ausland sitzen mittlerweile in Haft. Darunter auch der Lebensgefährte der Mutter, der schon einmal wegen Kindesmissbrauch verurteilt worden war. Trotz des Kontaktverbots zum Kind seiner Partnerin konnte er ungehindert zu Werke gehen.
Der Prozess am Freiburger Landgericht gegen einen der Angeklagten läuft seit dem 12. April. Er begann mit einem Geständnis des 41 Jahre alten Beschuldigten. Das Verfahren gegen die beiden Hauptangeklagten soll am 11. Juni beginnen. Sie sollen sich auch an einem dreijährigen Mädchen vergangen haben.
„Extrem stigmatisiert“: Basler Psychiater Marc Graf über Pädophilie
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