Märchen als Passion: Robert Steger aus Eichstetten Land & Leute | 17.10.2021 | Erika Weisser

Robert Steger Robert Steger bei seiner märchenhaften Seelsorge am Telefon.

Volksmärchen gehören zu der ältesten Gattung der mündlichen Überlieferung. Robert Steger aus Eichstetten ist einer der Menschen, die mit Begeisterung Märchen erzählen. In besonderen Zeiten wie den vergangenen 18 Monaten auch am Telefon.

Bevor er mit dem Erzählen beginnt, lässt der freundliche alte Herr die beiden Klangschalen ertönen, die neben dem Telefon im Bücherregal seines Wohnzimmers stehen. „Das mache ich immer“, erklärt der 82-Jährige seiner Besucherin, „um aus einem allgemeinen Gespräch auf eine andere Ebene überzugehen.“ Und plötzlich wird diese andere Ebene spürbar. Aufmerksamkeit, Neugier und Lauschsinn sind geweckt. Das Klang-Ritual verleiht dem Moment etwas Magisches, Zauberhaftes. 

Dann fängt er zu erzählen an. Von der listigen kleinen koreanischen Kröte, der es gelingt, einen mächtigen Tiger in Angst und Schrecken zu versetzen und in die Flucht zu schlagen. Von einem kümmerlichen und mit einem Stein beschwerten Palmsetzling, der durch die Kraft des Widerstands zur prächtigsten Palme einer afrikanischen Wüstenoase heranwächst. Und von einem afghanischen Flickschuster, der durch seine Klugheit die zweifelhaften Befehle seines Königs außer Kraft setzt – und schließlich zu seinem Berater wird. 

Lebendig und mitnehmend erzählt er all diese gleichnishaften Geschichten. Ohne auch nur einen einzigen Blick in einen der rund 350 Märchenbände im Bücherregal zu werfen: Robert Steger, der behauptet, dass er „eigentlich immer ein schlechtes Gedächtnis“ hatte, kann knapp 60 Märchen auswendig. Denn nach seiner Erfahrung ist zwischen Vorlesen und wortgetreuem Erzählen „ein himmelweiter Unterschied“. Beim Erzählen komme man dem Wesen der Volksmärchen näher, die schließlich im gesprochenen und nicht im geschriebenen Wort überliefert wurden und werden. Beim Erzählen entstehe auch zu den Adressaten der Geschichten eine andere, lebendigere Beziehung als beim Vorlesen. „Erzählen“, sagt er, „ist wie Bilder im eigenen Kopf ablaufen lassen und sie dem Zuhörer weitergeben.“

Schon immer, erinnert sich der frühere Vermessungsingenieur und spätere Sozialarbeiter, habe er sich für Märchen interessiert. Doch so richtig zum Erzählen gekommen sei er erst, als er nach 34 Berufsjahren als Geschäftsführer des Verbandes der Sozialwerke der Christengemeinschaft in den Ruhestand ging und mit seiner Frau nach Eichstetten zog. Das war 2004, seither bringt er den Menschen Märchen: bei Besuchen in Schulen, Kindergärten und Pflegeheimen, aber auch bei Auftritten im Märchenhaus Mannheim oder bei langen Märchennächten in der Freien Schule Elztal. Gerne hat er hin und wieder weiter weg wohnenden Freunden und Bekannten Märchen auch am Telefon erzählt.

Heilsamer Trost

Seit März 2020 macht er das fast täglich. In den Nachmittagsstunden ruft er jene an, die er früher besuchte, und schenkt ihnen ein Märchen. Allein in diesem Jahr waren es schon 750. Steger ist überzeugt, dass die auf jahrhundertelanger Erfahrung beruhenden Lebensweisheiten der Märchen gerade in besonderen Lebenslagen wie der Corona-Einsamkeit tröstend und seelenheilsam wirken: Sie machen Mut, erhellen die Stimmung und stärken die Zuversicht. Die schönen, gegenseitig bereichernden Gespräche, die sich nach dem Vortrag oft entwickeln, bestätigen dies. Inzwischen hat er einen festen Kreis von etwa 40 Zuhörern, manchmal kommen neue dazu. Er ist dankbar, dass er ihnen helfen kann. Und hofft auf Nachahmer.

Foto: © Renate Steger