Mobbing – Es ging ums Überleben Gesellschaft | 04.10.2021 | Paulina Flad

Junge, der in der Schule gemobbt wird

Jahrelang ist Norman Wolf gemobbt worden. Mitschüler quälten ihn, blamierten ihn, schlugen ihn. Über seine dramatischen Erlebnisse hat der 28-jährige preisgekrönte Blogger ein Buch geschrieben. Im Interview mit f79-Autorin Paulina Flad erzählt der Frankfurter von permanenten Attacken, fehlender Hilfe und was Lehrer*innen in solchen Fällen tun können.

f79: Norman, wie hat das Mobbing bei dir angefangen?
Norman: Das fing an, als ich von der Grundschule aufs Gymnasium gewechselt bin. Ich hatte Schwierigkeiten, Anschluss zu finden. Da war ich praktisch allein. Aber das war in Ordnung. Schwierig wurde es erst auf Klassenfahrt. Da wurde ich mit ein paar Jungs aus meiner Klasse in ein Zimmer gesteckt. Ich war damals in ein Mädchen verliebt und hab das erzählt. Morgens wurde ich an Armen und Beinen aus dem Bett gezerrt, vor das Zimmer dieses Mädchens. Da stand schon die halbe Klasse. Als ich da abgeworfen wurde und dieses Mädchen gesagt hat, dass sie nichts von mir will, habe ich mich wahnsinnig geschämt.

f79: Nach der Klassenfahrt ging es weiter?
Norman: Genau. Die haben sich über meine Familie lustig gemacht. Darüber, dass mein Vater arbeitslos ist und meine Mutter arbeiten geht als Putzfrau. Dann über meine Hobbys. Darüber, wie ich mich anziehe. Ich habe die negativen Gefühle mit Essen kompensiert und schnell viel zugenommen. Die Dehnungsstreifen sehe ich heute noch an meinen Oberschenkeln und meinem Bauch. Das war natürlich ein gefundenes Fressen für die Mobber. Also: Fettsack, fette Sau, du stinkst, du bist ekelhaft. Das wurde schnell auch körperlich. Die haben herausgefunden, dass ich empfindliche Haut habe. Wenn ich über meinen Arm kratze, dann wird das direkt rot. Dann hat mich einer von den beiden festgehalten und der andere hat mir ein Hakenkreuz auf die Stirn geritzt, damit sich das rot färbt. Die ganze Klasse hat darüber gelacht. Einmal saß ich in der Pause und einer von diesen Typen kam einfach rüber und hat mir mitten ins Gesicht geschlagen, so völlig ohne Kontext. Das war schon übel.

Cover: Wenn die Pause zur Hölle wirdf79: Gab es auch Mitschüler*innen, die dir geholfen haben?
Norman: Die Mobber waren alle bei mir in der Klasse. Aber nur die wenigsten haben mitgemacht, so drei oder vier Leute. Der Rest hat größtenteils zugeschaut, weggeschaut, mitgelacht. Geholfen hat mir von denen niemand. Ich glaube, die hatten einfach Angst, irgendwie selbst zur Zielscheibe zu werden. 

f79: Was hat das mit dir gemacht?
Norman: Der Tiefpunkt war wirklich, als ich zwölf war. Da ging das Mobbing schon so drei Jahre lang. Ich hatte meinen ersten Suizidgedanken. Ich dachte, dass ich eigentlich gar nicht gern am Leben bin.

f79: Wie hast du es geschafft, dem Mobbing zu entkommen? 
Norman: Ich habe das mehr so ausgesessen und ausgehalten. Besser wurde es erst ab der 8. Klasse. Da wurde so ein bisschen durchgemischt. Bis zur Zehnten hat es sich aufgedröselt und es wurden immer weniger Leute, die mich aktiv gemobbt haben. In der 10. Klasse habe ich Freunde gefunden. Da war keiner mehr in der Klasse, der mich gemobbt hat.

f79: Wie hat sich das ausgewirkt?
Norman: Plötzlich musste ich nicht mehr meine negativen Gefühle mit Essen kompensieren. Ruckzuck habe ich zehn Kilo abgenommen und mich wieder wohl in meinem Körper gefühlt. Auch meine Noten gingen durch die Decke. Als ich aufs Gymnasium gewechselt bin, sind sie total eingebrochen. Wie willst du lernen, wenn der einzige Gedanke ist: Wie komme ich hier heil wieder raus? Bei mir ging es in der Schule in diesen drei Jahren ums Überleben, nicht ums Lernen. 

„Man kann sich nicht selbst befreien“ 

f79: Eltern oder Lehrkräfte haben nicht geholfen?
Norman: Bei mir zu Hause war es sehr stürmisch zu der Zeit. Mein Vater war arbeitslos und Alkoholiker. Meine Eltern haben sich viel gestritten. Meiner Mutter ging es ultra schlecht, sie hat viel geweint. Da konnte ich das nicht richtig abladen. Ich habe zwei Lehrer*innen von meiner Situation erzählt. Aber ihre Reaktionen haben mir gesagt: „Das ist nicht mein Problem und es interessiert mich auch eigentlich gar nicht.“ Die eine hat mir geraten: „Ignorier sie.“ Das ist so ein dämlicher Ratschlag. Mobbing ignorieren hat für mich bedeutet, meine Schmerzen zu ignorieren und auszuhalten. Das bringt einem Kind bei, hilflos zu sein. Einfach Dinge über sich ergehen zu lassen. Was passieren muss, ist, dass Lehrkräfte eingreifen und konsequent Mobbing nicht zulassen oder disziplinarisch bestrafen.

Norman Wolf

Aufgeschrieben: Norman Wolf hat seine Geschichte zu Papier gebracht.

f79: Was unterscheidet Mobbing von Ärgern?
Norman: Der Unterschied ist, dass Mobbing längerfristig passiert. Es sind wiederholte, absichtliche Schädigungen. Zu Mobbing gehört ein Mächteungleichgewicht. Also du allein gegen den Rest. Oder: Du bist nicht stark genug, um dich zu wehren. Mobbing ist kein Streit auf Augenhöhe. Ein weiterer Punkt ist, dass man sich nicht selbst befreien kann. In Mobbing bin ich gefangen. Da brauche ich Hilfe von außen. 

f79: Was rätst du Kindern und Jugendlichen, die gemobbt werden?
Norman: Es ist wichtig, den Betroffenen zu vermitteln: Du bist nicht schuld daran, dass du gemobbt wirst. Alle Gründe, die die Mobber finden, sind Scheingründe. Der eigentliche Grund liegt in der sozialen Struktur der Klasse und darin, dass die Mobber sich selbst erheben wollen. Als ich gemobbt wurde, habe ich mich wie der einsamste Mensch der Welt gefühlt. Aber Mobbing ist ein Massenphänomen und findet sich überall. Heute weiß ich: Es geht irgendwann vorbei. Wie ein Licht am Ende des Tunnels. Auch wenn sich gerade alles doof anfühlt. 

f79: Soll man sich wehren?
Norman: Ja. Auch für Kinder gilt das Grundgesetz. Da steht, dass du ein Recht auf körperliche Unversehrtheit hast. Wenn ich geschlagen werde, darf ich zurückschlagen und keiner darf mich belangen. Auch wenn ich glaube, dass das in der schulischen Praxis etwas schwierig ist.

f79: An wen sollen sich Mobbing Opfer noch wenden?
Norman: Wende dich zuerst an jemanden, dem du vertraust. Sag, dass du das Problem hast. Und dann hoffe ich, dass diese*r Betroffene auf eine Person stößt, die sie ernst nimmt. Eltern sollten nicht sagen „Die ärgern dich nur“ oder „Du musst dich besser einbringen“. Sondern „Hey, danke, dass du mir das anvertraut hast, dass du den Mut hast, mir das zu sagen. Ich wette, das war nicht leicht und ich kann mir vorstellen, dass du echt viele Gefühle mitgemacht hast in den letzten Monaten. Ich will, dass du weißt, dass du die hier abladen kannst. Wir kriegen das irgendwie gemeinsam hin.“ 

f79: Und dann?
Norman: Der nächste Schritt ist zu schauen, was braucht das Kind. Es geht darum, mit den Lehrkräften zu sprechen und klarzumachen: Ich gehe hier nicht weg, bevor wir einen Lösungsweg gefunden haben. Falls das nicht funktioniert, muss ich mit dem Kind zum Vertrauenslehrer oder zur Schulleitung. Wenn nichts greift, gibt’s nur noch den Schulwechsel. Das ist immer noch besser, als nichts zu tun.

Mobbing

„Mobbing sind Handlungen negativer Art, die gegen eine Mitschülerin oder einen Mitschüler gerichtet sind. Mobbing kommt über einen längeren Zeitraum vor, es herrscht ein Ungleichgewicht der Kräfte.“ (mobbing-in-schule.de)

 

Hilfe bei Mobbing

Schulpsychologische Beratungsstelle Freiburg berät Betroffene
Fast jede*r sechste 15-Jährige wird in Deutschland regelmäßig Opfer von Mobbing. Das zeigt eine PISA-Studie von 2017. In Freiburg, Emmendingen und im Breisgau-Hochschwarzwald können sich Schüler*innen, Eltern und Lehrkräfte an die Schulpsychologische Beratungsstelle wenden. Andreas Sieburg (44) ist seit 14 Jahren Teil des Teams.

„Mobbing und ähnliche Verhaltensweisen sind ein Problem“, sagt Sieburg. In jeder Schule und in vielen Klassen könne es Entwicklungen geben, die nicht gut sind. Um Mobbing effektiv zu bekämpfen, empfiehlt er, solche Entwicklungen „möglichst früh zu erkennen und gemeinsam etwas dagegen zu tun“. Für den Experten fängt Mobbing dort an, „wo eine Gruppe von Menschen ihren Vorteil und ihre Zufriedenheit dort sucht, wo es immer wieder und einseitig auf Kosten Schwächerer geht“. 

Er rät jungen Menschen, die gemobbt werden: „Sei dir deiner Stärken bewusst und glaube an dich. Aber wenn es nicht weitergeht, dann ordne deine Gedanken, finde die richtigen Worte und sprich über das, was dich bedrückt.“ Sie sollen mit Freunden, mit Eltern oder Lehrkräften ins Gespräch kommen. Sieburg rät: „Suche dir Hilfe! Das ist nicht feige, sondern schlau.“

Kontakt:

Schulpsychologische Beratungsstelle
Telefon: 0761 595249-400
Mail: poststelle.spbs-fr@zsl-rs-fr.kv.bwl.de

Weitere Anlaufstellen

Nummer gegen Kummer:
116 111 (montags-samstags 14 bis 20 Uhr; anonym und kostenlos in ganz Deutschland)
www.nummergegenkummer.de

„Juuuport“:
WhatsApp oder Website-Beratung, hier helfen sich Jugendliche gegenseitig, vor allem wenn es um Cybermobbing geht.
www.juuuport.de/beratung

Bundeskonferenz für Erziehungsberatung:
Online-Hilfe per Chat (es gibt Einzel- oder Gruppen-Chats und ein Forum)
www.bke-beratung.de

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