Ferne Welten Kunst & Kultur | 30.09.2024
Vor der Kulisse des Schauinslands lebt und arbeitet der Steinbildhauer Martin Wiese in einem ehemaligen Kloster-Gasthof in Oberried-St. Wilhelm. Wo sich Wanderer und Mountainbiker die Lungen mit Schwarzwaldluft füllen und wo sich bis heute Fuchs und Hase gute Nacht sagen, lauscht seine illustre Schar fernöstlich anmutender Steinskulpturen mit geschlossenen Augen der sprudelnden Brugga …
Der Tag beginnt gut, wenn die Sonne die weite Wiese vor seinem Haus in goldenes Licht taucht. Wiese wendet dann gern die Köpfe von „Medea“, „Aries“ oder „Leon“ der Sonne zu. Und es geht leicht, weil er bei ihnen Kopf und Rumpf durch ein Rohr mit Kugellager verbunden hat. Wiese sinniert: „Meine von mir geschaffenen Skulpturen sollen eine ruhige und friedliche Tagträumerei ausstrahlen.“ Die rotierenden Köpfe ermöglichen, miteinander in Dialog zu treten und schaffen eine, so Wiese, „mitunter komödiantische Wechselhaftigkeit“.
Der Bildhauer freut sich, dass er hier im Maierhof des ehemaligen Wilhelmitenklosters eine so vom Licht durchdrungene Schaffensstätte gefunden hat: „Dieser Ort wurde einst von den Mönchen gut ausgesucht. Er liegt erhaben auf einer Endmoräne und ist von der Sonne verwöhnt.“
Kurse am Lagerfeuer
Einflüsse von Natur und Kultur inspirieren den Künstler. Deshalb lässt er sich auch gern mit den Teilnehmern seiner Bildhauer-Kurse auf seiner großen Wiese am Lagerfeuer nieder oder erkundet den Schwarzwald auf seinem Mountainbike. Vor 15 Jahren schaffte er die ersten naturalistischen und halbnaturalistischen Skulpturen.
Seine Lieblings-Skulptur, so sagt Wiese, sei Aries, der Widder aus seinem Zyklus der Sternkreiszeichen. Zu diesem Zyklus gehört auch Leon, der Löwe. Bei unserem ersten Besuch liegt der Kopf von Leon noch auf dem Arbeitsplatz in Wieses Werkstatt. Schon fertig ist die grobe, wildzerzauste Mähne. Über das Gesicht mit den geschlossenen Augen scheint ein weises Lächeln zu huschen. Es ist glatt poliert wie ein Kinderpo und seidig glänzend. Harte Schale – weicher Kern. Der schmale, hochgewachsene Bildhauer mit dem vollen weißen Haar poliert das Gesicht noch weiter mit italienischem Spezialwachs und redet dem gutmütigen wilden Gesellen kameradschaftlich zu. Er, der eher mit Sandstein oder auch mit Bronze-Abgüssen arbeitet, hat sich beim Löwen für Kalkstein-Marmor als Material entschieden. Am fein ausgearbeiteten Kopf von Leon werden die Möglichkeiten deutlich, die in dem Material stecken.
Sein Stein-Material sucht Wiese übrigens selber in Steinbrüchen oder auf Feldern. Was aber empfindet er in dem Augenblick wenn sein Werk fertig vor ihm steht? Der 65-Jährige lächelt: „Da entsteht meist sofort eine starke Verbindung, eine Nähe zu diesem neuen Wesen. Manchmal jedoch empfinde ich eher ein ‚Fremdeln‘. Mit der Zeit aber gelingt es mir auch in solchen Fällen meist, den Charakter der Skulptur anzunehmen.“
Seine Skulpturen, deren Köpfe oft „wohlbehütet“ im rauen Stein geborgen scheinen, umgibt eine Aura des seltsam berührenden Fremdartigen. Arbeitsreisen, die ihren Schöpfer mit unterschiedlichen Kulturen in Verbindung gebracht haben, prägen sein Schaffen. Anklänge scheinen auf an buddhistische Figuren, die in sich ruhen.
Friedliche Botschafter
Der Künstler sagt: „Der Friede, der von den Skulpturen dieser Kulturen ausgeht, hat mich inspiriert.“ So will er, dass auch seine Skulpturen Botschafter des Friedens sind. Er bezeichnet sie als seine „Begleiter“, aber auch als seine Babys, die das Licht der Welt noch nicht erblickt haben.
Wanderer auf dem Weg durch das urige St. Wilhelmer Tal können gerne spontan einen Schwenker zur Skulpturenwiese von Martin Wiese machen und sich von seinen zauberhaften Stein-Wesen in ferne Welten entführen lassen.