Wegen 4 Euro im Knast: Warum ein Freiburger ohne Fahrschein hinter Gitter muss – und viele andere auch Kriminalität | 08.10.2024 | Till Neumann

15 Tage Knast: Das bekam ein Freiburger, weil er keinen Fahrschein hatte. (Symbolfoto)

Schlappe 4,32 Euro kostet ein Einzelfahrschein von Freiburg nach Emmendingen. Einen solchen hatte Felix Müller (Name geändert) Anfang des Jahres nicht. Da er die 60-Euro-Geldstrafe nicht zahlen konnte, musste er im August 15 Tage hinter Gitter. Nicht nur Jurist*innen fordern schon länger, solche Ersatzfreiheitsstrafen abzuschaffen. Auch im Freiburger Gemeinderat gibt es Bewegung zum Thema. Die Freiburger Verkehrs AG (VAG) hält davon aber nichts.

Mindestens 10 Mal im Knast

Felix Müllers Leben steht seit Jahren Kopf. Der 37-jährige Freiburger ist arbeitslos, in Therapie und hat eine zerrüttete Familiensituation. Er war bereits mehrfach im Gefängnis. So häufig, dass er nicht mal mehr weiß wie oft. „Mindestens 10- bis 15-mal“, erzählt Müller in einer Freiburger Notunterkunft. Dort lebt der tätowierte Mann. Er wirkt mitgenommen, aber konzentriert. Auf seinem Kopf eine schwarze Cap, im Ohr steckt ein silbern glänzender Ring.

Schillernde Geschichten kann Müller nicht erzählen. Er ist gelernter Maurer, Vater eines Sohnes und saß schon als Jugendlicher im Gefängnis: „So mit 14, 15 zum ersten Mal.“ Mithilfe von Sozialarbeitenden versucht er, zurück in die Spur zu kommen. Doch das klappt nur bedingt. Erst im August musste er erneut hinter Gitter. Der Grund: „Erschleichen von Leistungen“. Der Freiburger war im Frühjahr im Zug unterwegs von Freiburg nach Emmendingen. Er wurde kontrolliert und hatte keinen Fahrschein. Wie schon häufiger in den vergangenen Jahren. Die Deutsche Bahn oder die Freiburger Verkehrs AG (VAG) fordern dann Bußgelder. Bezahlen kann Müller sie in der Regel nicht. Die Konsequenzen können dramatisch sein.

Tatort Regionalbahn: Im Zug zwischen Freiburg und Emmendingen ist Felix Müller erwischt worden.

487,70 Euro im Monat

Zwei Wochen nach der Zugfahrt Freiburg-Emmendingen kam Post zum entsprechenden Bußgeld. Die Summe von 60 Euro konnte Müller nicht begleichen. „Ich hatte kein Geld dafür“, sagt der Bürgergeld-Empfänger. 563 Euro bekommt er monatlich vom Jobcenter. Da es jedoch Schulden einbehält, bleiben 487,70 Euro. Er erklärt: „Ich habe viel zu bezahlen, auch für meinen Sohn.“ Für andere Dinge bleibe nicht viel übrig. Seine Bewährungshelferin riet ihm, Sozialstunden zu leisten, um die Strafe abzuarbeiten. Er versuchte sich als Helfer auf dem Mundenhof. „Das hat aber nicht ganz funktioniert“, berichtet Müller. Seine Sätze sind kurz. Die Stimme ist leise.

Am 1. Juli erreichte ihn ein Schreiben der Staatsanwaltschaft Freiburg. Es liegt der Redaktion vor. Darin heißt es: „Ladung zum Antritt der Ersatzfreiheitsstrafe“. Er soll 30 Tagessätze à 10 Euro im Gefängnis absitzen. „Sie werden aufgefordert, diese Strafe bis spätestens 12. August 2024 in der Justizvollzugsanstalt Freiburg – Außenstelle Lörrach – anzutreten.” 15 Tage muss er hinter Gitter. Zudem wird seine laufende Bewährung von zwei Jahren um ein weiteres Jahr verlängert.

„Das ist scheiße“

Für Felix Müller ist eine Ersatzfreiheitsstrafe nichts Neues. Er saß dafür schon mehrfach im Knast. Ein Schock ist der Brief dennoch: „Das ist scheiße, es macht alles kaputt“, schimpft Müller. Auch die Beziehung zu seinem Sohn, die er erneut aufbauen möchte. Die Termine für die regelmäßigen Treffen kann er durch den Gefängnisaufenthalt nicht wahrnehmen. „Daraufhin hieß es, ich bin unzuverlässig“, berichtet Müller. „Die wussten nicht, wo ich bin.“ Bescheid geben habe er nicht gekonnt, da in 15 Tagen Gefängnis nur ein Telefonat erlaubt gewesen sei. Internetzugang hatte er keinen.

Kurios: Auf dem Schreiben der Staatsanwaltschaft heißt es, er könne seine Ersatzfreiheitsstrafe jederzeit durch Zahlung der 300 Euro abwenden. Müller sagt jedoch: „Das war bei mir nicht möglich.“ Er habe noch vor Haftantritt angeboten, zwei Tage später den Betrag zu begleichen. Doch das sei abgelehnt worden.

Freikaufen? Ging nicht

Auch die Freiburger Staatsanwaltschaft betont, dass ein Freikaufen möglich ist. „Wer eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßt, hat immer die Möglichkeit, das zu bezahlen, auch während der Haft“, erklärt Sprecherin Sabrina Haberstroh. Würden beispielsweise die Eltern plötzlich vor der JVA-Tür stehen und bar bezahlen, sei er auf freiem Fuß.

Warum das in Felix Müllers Fall nicht ging, kann ein Sozialarbeiter vom Diakonischen Werk Freiburg erklären, der namentlich nicht genannt werden möchte: „Das Bezahlen ist technisch vielleicht möglich, wenn man eine EC-Karte oder Bargeld hat.“ Doch Felix habe weder ein Konto noch Bargeld. Er bekomme sein Bürgergeld in Form eines Schecks, den er bei der Postbank einlösen kann. Der Mann begleitet Müller schon eine Weile und kennt seinen Werdegang.

Rund 5000 hinter Gittern

Was dem Freiburger widerfahren ist, passiert in Deutschland Tausenden. Im Jahr 2023 saßen laut statista.com monatlich zwischen 4332 und 5435 Menschen wegen einer Ersatzfreiheitsstrafe hinter Gitter. Laut einer Recherche von „FragdenStaat“ und dem „Magazin Royal“ handelt es sich bei jedem vierten Betroffenen um Menschen, die ohne Fahrschein unterwegs waren.

Ein weiterer Hauptgrund kann Diebstahl sein. Ein zusätzliches Ergebnis der Recherche: Diese Personen sind in den meisten Fällen arbeitslos, suchtkrank oder wohnungslos. Sie sind daher in der Regel nicht in der Lage, die Kosten für einen Fahrschein oder die Geldstrafe zu begleichen.

1090 Menschen freigekauft

Bei der Staatsanwaltschaft Freiburg will man sich dazu nicht festlegen: „Man kann nicht pauschal sagen, dass die Betroffenen zahlungsunfähig sind“, so Haberstroh. Die Gründe seien vielfältig. Es gebe auch Menschen, die zahlungsunwillig seien, weil sie die Strafe nicht einsehen. Es könne zudem auch sein, dass jemand das entsprechende Schreiben nicht erreicht, da er umgezogen ist und sich nicht um einen Nachsendeauftrag gekümmert habe.

Ein anderes Bild zeichnet die Initiative Freiheitsfonds aus Berlin. Sie sammelt Geld und kauft damit Inhaftierte frei, die eine Ersatzfreiheitsstrafe absitzen. „Wir haben bisher 1090 Menschen freigekauft und kennen keinen einzigen Fall, in dem jemand zahlungsunwillig ist“, betont Arne Semsrott auf chilli-Anfrage. Das sehe man allein an der Höhe der Tagessätze von 10 bis 30 Euro. Sie zeigten allesamt, dass die Menschen Bürgergeld oder noch weniger zur Verfügung hätten. Semsrott ergänzt: „Sind Menschen nur zahlungsunwillig, kann gegen sie vollstreckt werden, um ohne Haft Geld von ihnen zu holen.“

Sozialticket kostet 34 Euro

Das Team des Freiheitsfonds präzisiert: „Die Betroffenen sind überwiegend arbeitslos (87 Prozent), ohne festen Wohnsitz (15) und suizidgefährdet (15).“ Es setzt sich daher für eine Entkriminalisierung ein: „Niemand darf wegen fehlender Tickets in Haft landen!“ Deswegen fordert die Initiative, dass der Paragraph §265a StGB von 1935 gekippt wird. Eine zweite Forderung: „Es muss langfristig eine kostenlose Nutzung des ÖPNV ermöglicht werden.“

Freigekauft: Der Freiheitsfonds sammelt Geld und holt Inhaftierte aus dem Gefängnis.

Diesen Wunsch hat auch Felix Müller aus Freiburg. Oder zumindest, dass das Ticket nur neun statt rund 30 Euro kostet und der Betrag automatisch von seinem Bürgergeld abgezogen wird. Er hat zwar Anspruch auf ein vergünstigtes Ticket, sein Geld reicht dafür jedoch nicht immer. Die zwei Optionen sind: das Freiburger Sozialticket für den Öffentlichen Nahverkehr für 34 Euro. Oder das ermäßigte Deutschlandticket für 28 Euro. Um das zu bekommen, reicht aber nicht nur das Geld, erklärt der Sozialarbeiter: „Das ist ein bürokratischer Aufwand, der manche überfordert.“ Für beide Tickets müsse man beim Jobcenter einen Antrag stellen. Mache man das rechtzeitig, habe man Glück. Für das Deutschlandticket brauche es zusätzlich ein Konto und der Antrag laufe per Post. Bis es vorliege, verginge mehr als eine Woche. Er betont: „Das sind Hürden, die für den Otto Normalbürger zu bewältigen sind. Für Menschen, die von Armut, Abhängigkeiten oder Erkrankungen betroffen sind, ist das aber schwierig.“

Hafttage halbiert

Auf Bundesebene wird eine Abschaffung solcher Ersatzfreiheitsstrafen schon länger diskutiert. Justizminister Marco Buschmann (FDP) möchte sich des Themas annehmen, doch passiert ist zuletzt wenig. Lediglich wurde im laufenden Jahr die Zahl der Hafttage halbiert. Pro Tagessatz sind es nun nur noch 0,5 Tage Gefängnis.

Das reicht einigen Städten und Kommunen nicht. Sie gehen die Sache in Eigeninitiative an. Aus Kostengründen verzichtet beispielsweise die Stadt Bremerhaven schon seit 2012 darauf, Strafanträge wegen fehlender Fahrscheine zu stellen. Auch Köln, Düsseldorf, Karlsruhe, Dresden oder Mainz schlagen diesen Weg ein.

SPD prescht vor

Freiburg könnte folgen: Zwei Gemeinderatsfraktionen sind Ersatzfreiheitsstrafen wegen Schwarzfahrens ein Dorn im Auge. Die SPD und Eine Stadt für Alle sind daher zuletzt vorgeprescht. Sie fordern, dass auch hier auf Anzeigen verzichtet wird. Ihr Vorschlag: Schwarzfahren soll von der Straftat zur Ordnungswidrigkeit herabgestuft werden. Somit wäre für Betroffene ein Bußgeld statt einer Geldstrafe fällig – und eine Ersatzfreiheitsstrafe nicht mehr möglich.

SPD-Stadtrat: Ludwig Striet

Zuständig für das Thema bei der SPD ist Stadtrat Ludwig Striet. Er sagt: „Es geht darum, dass man keine armen Menschen fürs Armsein bestraft.“ Seine Fraktion wolle, dass niemand angezeigt werde, bei dem klar ist, dass die Person nicht bezahlen könne. Die Freien Wähler reagierten prompt. Fraktionsvorsitzender Johannes Gröger warf die Frage auf: „Wer soll zukünftig noch motiviert werden, eine Fahrkarte zu kaufen, wenn Schwarzfahren quasi ohne Folgen bleibt?“

VAG will Kontrolldruck

Auch die VAG kontert: „Kontrollen sind ein wichtiges Mittel zur Sicherung der Einnahmen und ein gewisser Kontrolldruck erhöht nach unserer Einschätzung auch die Zahlungsmoral des einen oder anderen Fahrgasts“, erklärt VAG-Sprecher Jens Dierolf. Eine Herabstufung zu einer Ordnungswidrigkeit könne eine negative Signalwirkung haben und die Arbeit der Fahrausweisprüfer erschweren, die schon jetzt eine herausfordernde Arbeit haben.

Betroffene könnten weglaufen

Die konkrete Auswirkungen: „Die Herabstufung zu einer Ordnungswidrigkeit hätte die Folge, dass unsere Fahrausweisprüfer nicht mehr ohne Weiteres die Polizei hinzuziehen könnten, wenn Personen sich weigern, ihre Personalien anzugeben“, sagt Dierolf. Betroffene könnten einfach weglaufen. Die ehrlichen Fahrgäste der VAG erwarteten zudem Sanktionen gegen die Personen ohne Fahrschein.

Die VAG geht nicht davon aus, dass so vor allem sozial Schwache stigmatisiert würden. Es gebe schließlich vergünstigte Fahrscheine. Ihr Anteil bei Schwarzfahrten sei nach subjektiver Einschätzung unterproportional.

682 Strafanzeigen

Dierolf stellt klar: „Bei unseren Kontrollen werden seit Jahren etwa ein bis zwei Prozent der kontrollierten Fahrgäste ohne gültigen Fahrausweis angetroffen.“ Beim Erstatten von Strafanzeigen gehe die VAG mit „sehr viel Augenmaß” vor. Sie erstatte nur in drei Fällen Anzeige: Wenn die Polizei hinzugezogen werden muss – vor allem weil Personen sich weigern, ihre Personalien anzugeben oder dem VAG-Personal gegenüber handgreiflich werden. Wenn Personen einen gefälschten Fahrausweis vorzeigen. Wenn Personen mehrfach innerhalb kürzerer Zeit ohne Fahrschein angetroffen werden.

Im vergangenen Jahr hat die VAG nach eigenen Angaben 3854 Fahrgäste ohne gültiges Ticket erwischt. In 682 Fällen sei Strafanzeige gestellt worden. Die VAG schätzt ihre Einnahmeverluste auf rund 1,5 Millionen Euro pro Jahr. Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen geht für ganz Deutschland von bis zu einer Milliarde Euro aus. Er befürchtet eine Zunahme im Falle einer flächendeckenden Gesetzesänderung.

Fehlender Kontrolldruck in der Tram? Die VAG hält nichts von dem Änderungsvorschlag.

2700 Euro für eine Schwarzfahrt

Demgegenüber stehen die Kosten für Ersatzfreiheitsstrafen: Ein Tag im Gefängnis kostet in Baden-Württemberg 180 Euro. In Nordrhein-Westfalen sind es 191 Euro. Allein für die Inhaftierung von Felix Müller sind somit mindestens 2700 Euro angefallen. Nicht eingerechnet ist, dass er nach wenigen Tagen von Lörrach nach Offenburg verlegt wurde. Warum das so ist, weiß er nicht.

Auch der Freiheitsfonds hat Zahlen zu den Kosten: Er hat in rund zwei Jahren rund 959.000 Euro investiert, um Gefangene freizukriegen. Und dadurch nach eigener Berechnung 201 Haftjahre aufgelöst. Das entspreche gesparten Kosten von 15,6 Millionen Euro.

„Es war ein Alptraum“

Nicht beziffern lassen sich die persönlichen Folgen für Betroffene. „Eine Ersatzfreiheitsstrafe ist ein krasser Einschnitt für Betroffene“, betont Frank Stocker vom Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit (AKS) Freiburg. Er begleitet Wohnungslose in prekären Situationen seit 14 Jahren. „Die Leute sind arm und überfordert von ihrer Lebenssituation“, sagt der 44-Jährige. Die Annahme, dass sich ihre Situation durch eine Gefängnisstrafe verbessere, sei falsch. „Das wird schlechter, auch psychisch“, betont Stocker. Das Stigma, hinter Gittern gewesen zu sein, hafte an ihnen. Auch die Suizidgefahr steige. Und das wegen eines nicht gelösten Fahrscheins.

Einen solchen Einschnitt hat auch Felix Müller erlebt. „Die Ersatzfreiheitsstrafe war ein Albtraum“, sagt der 37-Jährige. Er habe sich eine Zelle geteilt mit einem Mann, der einen Alkoholentzug ausgelebt habe. „Der war die ganze Zeit am Kotzen und Furzen“, berichtet Müller und entschuldigt sich für die Wortwahl. Was er die 15 Tage lang gemacht hat? „Warten, bis es vorbei ist.“ Er habe rund 22 Stunden täglich in der Zelle verbracht. Das Einzige, worauf er Anrecht hatte für einen Zeitvertreib: zwei Bücher aus der Bibliothek.

Nochmal hinter Gitter?

So ging es auch anderen. Mindestens sieben weitere Personen hat er in der JVA getroffen, die ebenfalls wegen Schwarzfahrens einsaßen. In seinem Freiburger Bekanntenkreis schätzt er die Zahl der Betroffenen auf rund 20. 

Um ein Sozialticket möchte er sich nun bemühen. Ob er es bezahlen kann, weiß er nicht. Es ist für ihn nur eine Frage der Zeit, bis er wieder hinter Gittern landet. 

Foto: © dpa Patrick Seeger, pixabay, privat

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