Freiburg dreht am Rad: Rathaus bilanziert Millionen-Offensive, Aktivisten fordern mehr Mut Gesellschaft | 11.02.2023 | Till Neumann

Fahrradparkplatz am Bahnhof Freiburg Rappelvoll: die Zone um den Hauptbahnhof Freiburg wird von Radelnden intensiv genutzt

Rund 16 Millionen Euro hat das Rathaus in 16 Monaten in den Fuß- und Radverkehr investiert. An vielen Orten wurde gebaut, erweitert oder modernisiert. Für die Verkehrsplaner erreicht man so eine neue Dimension. Angestoßen haben das die Aktivisten des Fuß- und Radentscheids. Doch wirklich zufrieden sind sie nicht: Es fehlt mehr Mut, sagt ein Vertreter. Nur mit dem könne man es in die Fahrrad-Europa-League schaffen. Auch ein Radhändler sieht Freiburg als Velostadt kritisch.

„Massiv verbessert“

Martin Haag

Martin Haag

Zur Bilanz-Pressekonferenz im Rat­haus lädt Baubürgermeister Martin Haag gerne ein. Stolz präsentiert er mit den Verkehrsplanern Frank Uekermann und Georg Herffs vom Garten- und Tiefbauamt (GuT) im Dezember die Ergebnisse der größten Fuß- und Radoffensive, die Freiburg bisher hatte: 16 Millionen Euro in 16 Monaten haben sie investiert – mit 11,5 Millionen Euro Landes-Fördermitteln. „Eine Dimension, die wir so nie kannten“, betont Haag. Das Programm suche einen Vergleich in Deutschland. Er ist sicher: „Der Radverkehr hat sich massiv verbessert.“ Klimaschutz und Verkehrssicherheit gingen mit einher.

Mehr als 30 Maßnahmen sind auf den Weg gebracht worden, berichtet Haag. 24 seien bereits umgesetzt. Breitere und neue Radwege, mehr Platz für den Fußverkehr, barrierefreie Übergänge oder Haltestellen oder auch sichere Kreuzungen. Trotz des „verdammt engen Zeitplans“ sei der Kraftakt geglückt. Verantwortlich dafür ist vor allem das GuT. Leiter Frank Uekermann ist selbst Fahrradnerd. Seine vierköpfige Familie zählt 16 Räder.

„Wurzelbehandlung“ geglückt

Frank Uekermann

Für die Radoffensive hat sein Team fünf Ingenieure eingestellt: „Sonst wären wir nicht so schnell gewesen.“ Zu den größten Projekten zählt er den Bau der Radvorrangroute FR3 am Hauptfriedhof. Sie verläuft vom Viertel Vauban nach Zähringen und ging mit Kontroversen einher. Auch das Umwandeln einer Autospur am Schlossbergring in einen Radweg erhitzte die Gemüter. „Das war die wohl am meisten diskutierte Maßnahme“, berichtet Uekermann. Sehr erfolgreich sei der Test verlaufen – und werde weitergeführt.

Wichtig ist Uekermann, auf Wünsche der Bürger*innen einzugehen. So seien bei einer „Wurzelbehandlung“ alle 170 gemeldeten Wurzelschäden an Radwegen behoben worden. Das Projekt möchte er mit digitalen Meldungen fortführen. Ein Wermutstropfen ist für den Planer der Fußverkehr: „Der hinkt etwas hinterher, der Fokus war aufs Rad.“ Deshalb sei neuerdings ein Fußverkehr-Beauftragter dafür zuständig.

„Wünschen uns mehr Mut“

Ins Rollen gebracht haben die Mobilitätsoffensive 2020 die Aktivist*innen des Fuß- und Radentscheids Freiburg. Sie sammelten Unterschriften für einen möglichen Bürgerentscheid. Das Bürgerbegehren wurde vom Rathaus abgelehnt – mit der Begründung, es sei nicht konkret genug. Daraufhin beauftragte der Gemeinderat das Rathaus mit einer Großoffensive zur Mobilitätswende.

Aus nächster Nähe begleitet hat das Jörg Isenberg. Der studierte Physiker ist einer der Sprecher des Fuß- und Radentscheids. Die Arbeit des Rathauses begrüßt er: „Es ist in den vergangenen zwei Jahren sicherlich deutlich mehr passiert als davor.“ Wirklich zufrieden ist er aber nicht. „An manchen Stellen wünschen wir uns mehr Mut“, sagt der 48-Jährige. Zu langsam und zu kompliziert ginge es voran. Es brauche eine andere Ausrichtung und Prioritätensetzung. Denn Freiburg sei weiterhin eine Stadt, in der viele sich nicht aufs Rad trauten. Vor allem Fahranfänger mit 13, 14 Jahren oder Menschen ab 60. Auch die müssten mitbedacht werden.

Kritik am Kreisel

massiv verbessert

Jörg Isenberg

Als Beispiel nennt er die neuen Kreisverkehre der Waldkircher Straße. Dort ende der Radweg vor dem Kreisel. Für selbstsichere Radler sei das kein Problem. „Wir fahren so in der Mitte, dass uns keiner überholt.“ Doch unsichere Radler blieben im Kreisverkehr am Rand, würden von Autos überholt und gerieten so in potenzielle Gefahrensituationen. „Kreisverkehre brauchen idealerweise einen abgesetzten Radweg“, sagt Isenberg. In den Niederlanden gebe es das zuhauf. Fotos dazu habe er dem GuT geschickt, sei aber vertröstet worden.

Auch die neue Radspur am Schlossberg­ring stellt Isenberg nicht zufrieden. „Sie beginnt erst ab der Brücke, an die Abbiegespur der B31 haben sie sich nicht rangetraut.“ Fußgänger müssten daher über die Treppe oder ein Kopfsteinpflaster. Zumal habe es zwei Jahre gedauert, bis das Rathaus das Projekt angegangen sei. Bis dahin gab es mehrere Demons­trationen vor Ort.

Fahrrad in der Parkverbotszone

Alltag: Wegen Parkplatzmangel am Bahnhof wird wild abgestellt – auch in Verbotszonen.

Viele weitere Beispiele hat Isenberg auf Lager. Oft mit Blick in die Niederlande. Er wünscht sich besser geschützte Radwege, weniger Raum für Autos und Parkplätze oder auch ein weiteres Radparkhaus am Bahnhof. Das Parken dort sei extrem ausbaufähig. „In den Niederlanden hat jede Stadt ab einer Größe von Tübingen ein Parkhaus, das in den ersten 24 Stunden kostenlos ist.“ Sei der Gratisstart nicht gegeben, funktioniere es nicht. Die Freiburger Radstation hat ein Velo-Parkhaus, es kostet einen Euro pro Tag und ist meist gut gefüllt. Isenberg schlägt daher vor, die Bahnhofstiefgarage für Räder umzufunktionieren. Eine Sanierung sei eh geplant.

Europäischer Anspruch

Hat Freiburg einen großen Satz gemacht? Ja, sagt die Rathausspitze. „Es genügt nicht“, antwortet Isenberg. Freiburg sieht er in Sachen Fahrradfreundlichkeit auf einem guten Platz in der 3. oder 4. Liga. Sein Vergleich geht ins europäische Ausland. Amsterdam, Kopenhagen, Utrecht. „Freiburg will Europa League spielen, das ist der Anspruch“, fordert der Aktivist. Belegen will er das mit Zahlen.

Zuletzt habe Freiburg 35 bis 50 Euro pro Einwohner im Jahr in die Radinfrastruktur investiert. In Kopenhagen seien es ebenfalls 35 Euro. „Aber seit 30 bis 40 Jahren“, sagt Isenberg. Utrecht gebe sogar 130 Euro pro Kopf im Jahr aus. Oslo habe Nachholbedarf und liege bei 70 Euro. In Tübingen spreche Boris Palmer von 100 Euro pro Kopf jährlich. Und was ihn ärgert: Im geplanten neuen Haushalt 2023/2024 sollen die Ausgaben „massiv niedriger sein“. Zehn Millionen sind für die nächsten zwei Jahre veranschlagt.

Viele unsichere Radwege

Beistand bekommt Isenberg überraschenderweise von einem Händler. Roman Heim ist Geschäftsführer von Freiburgs größtem Veloladen „Hild Radwelt“. Der 39-Jährige sagt: „Freiburg ist eine Fahrradstadt, die Stadt wertet die Infrastruktur sehr aktiv auf.“ Dennoch gebe es weiterhin zu viele unsichere Radwege. Er ist überzeugt: „Das sorgt dafür, dass viele nicht aufs Rad steigen.“ Auch er wünscht sich vom Pkw-Verkehr abgetrennte Radwege, übersichtlichere Kreuzungen und bessere Parkmöglichkeiten, um ein hochwertiges E-Bike in der Innenstadt sicher abstellen zu können.

Für Baubürgermeister Haag ist klar: Trotz der Rekordzulassungen bei den Pkw muss genau da angesetzt werden. „Der Autoverkehr muss Fläche abgeben.“ Der Blick in andere Städte wie Barcelona oder Kopenhagen sei hilfreich, gesucht werde aber eine Freiburger Lösung. Und da habe man es oft mit einer Infrastruktur von vor 30 Jahren zu tun – und einem Bevölkerungswachstum von 25 Prozent seit den 80er-Jahren.

Fotos: © Till Neumann & privat

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