chilli-Redaktion kürt die Alben des Jahres 2023 Musik | 19.12.2023 | Pascal Lienhard, Till Neumann, Jennifer Patrias, Philip Thomas

Die Alben des Jahres

Beim chilli schauen wir auch mal über den Freiburger Tellerrand hinaus. Zum Ende des Jahres haben wir unsere überregionalen Alben des Jahres gekürt. Pop, Country, Singer-Songwriter oder Hip-Hop – stilistische Engstirnigkeit kann man uns nicht vorwerfen.

Niels Frevert: Pseudopoesie

Der große Durchbruch ist Niels Frevert verwehrt geblieben. Gut, die Single „Evelin“ seiner Ex-Band Nationalgalerie war ein Achtungserfolg. Doch das war 1993. Seit mehr als 25 Jahren veröffentlicht Frevert seine Alben als Solo-Künstler. Nicht wenige halten ihn für einen der besten deutschen Songwriter.

Auf seinem achten Longplayer „Pseudopoesie“ knüpft der Hanseate an den Vorgänger „Putzlicht“ an, musikalisch öffnet er sich mehr denn je dem Pop. Die Texte sind auf gewohnt hohem Niveau. Andere würden sich nach einem Songtitel wie „Träume hören nicht auf bei Tagesanbruch“ die Finger lecken. Und geht es im flirrend-nervösen Opener „Weite Landschaft“ nun um eine marode Beziehung oder um den Klimawandel?

Zu den Höhepunkten der Platte zählt neben dem Titeltrack das hypnotisierende „Rachmaninow“, das auf eine nächtliche Autofahrt entführt. Doch das eigentliche Highlight ist „Waschbeckenrand“. Im hymnischen Track spielt der 56-Jährige mit Zeilen wie „Es bleibt nur eine Richtung übrig mit dem Rücken zur Wand“ seine lyrischen Stärken voll aus.

Für Fans hat es auch Vorteile, dass der Musiker nie zum Topseller wurde: Sie können ihn weiter in kleineren Locations erleben. Wer Frevert und Band im Mai im Freiburger Waldsee gesehen hat, wird das unterschreiben.

von Pascal Lienhard

Niels Frevert
Pseudopoesie
Cover

Niels Frevert
Pseudopoesie
Singer-Songwriter

 

 

 

 

Peter Fox: Love Songs

Peter Fox hat sich mit dem Album „Love Songs“ vielleicht nicht neu erfunden. Eine neue musikalische Richtung hat er aber sicher eingeschlagen: Amapiano- und Afroelemente sind die neue Duftmarke des Berliners. Sie machen seinen Sound leichtfüßiger, tanzbarer und bunter.

Mit der Single „Zukunft Pink“ hat der Seeed-Frontmann zudem seine Fähigkeiten als einer der Top-Texter der Republik unter Beweis gestellt. Er schafft es in 3.51 Minuten viele Problemzonen unserer Zeit aufzuzeigen: unbezahlbare Mieten, größenwahnsinnige Investoren (Elon Musk), Diversity, Künstliche Intelligenz – und trotzdem Hoffnung zu verbreiten.

Auch Songs wie „Ein Auge blau“, „Tuff Cookie“ oder „Toscana Fanboy“ sind Hymnen. Das funktioniert sowohl als Studioversion (mehr als 100 Millionen Streams) als auch live: Beim Münsterplatz-Konzert hat er das im Juni in Freiburg mit Bravour bewiesen: Er und seine Band boten Überragendes – und holten rund 40 Tänzer·innen auf die Bühne. Ein Community-Spektakel der Extraklasse. Und das von einem Mann über 50. Chapeau.

Seeed war einst für viele kaum zu toppen. Fox zeigt aber solo, dass noch mehr geht. Er ist kommerziell erfolgreicher als es die Band jemals war. Wer sich das urbane Meisterwerk „Love Songs“ anhört, weiß, warum das so ist.

von Till Neumann

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Cover

Peter Fox
Love Songs
HipHop

 

 

 

 

Taylor Swift: 1989 (Taylor’s Version)

Mehr als 26 Milliarden Streams hat Taylor Swift seit Januar zu verzeichnen – und das aus gutem Grund: Nicht nur aktuelle Songs bringen die Herzen der Swiftis zum Schmelzen, auch die Alben „Speak Now“ und „1989“, die sie nach einem Streit mit ihrem ehemaligen Label neu einspielte, gehen steil durch die Decke.

21 eigeninterpretierte Songs gibt’s auf „1989“ auf die Ohren, inklusive fünf bisher unveröffentlichte Tracks. Die Melodien sind leicht abgewandelt, die Texte teils umgeschrieben und Swifts Gesang technisch kraftvoller und erwachsener. So hat sich der Sound bei „Out of the Woods“ leicht verändert und wurde dezent in den Vordergrund gerückt, während sich „Shake it off“ durch die veränderte Stimme und die etwas langsamere Hintergrundmusik fast wie ein ganz neuer Song anhört.

Neu sind unter anderem der Kendrick-Lamar-Remix zu „Bad Blood“, die Elek­tropop-Ballade „Is it Over Now?“ und der Disco-Groove-Song „Now that we don’t talk“. Und wie könnte es anders sein, erzählt das Lied von einer Trennung und den daraus folgenden Konsequenzen. Dass die Thematik funktioniert, zeigt die aktuell ausverkaufte Tour der Sängerin. 2024 kommt Swift im Rahmen ihrer „The Eras“-Tour auch nach Deutschland. In Gelsenkirchen, Hamburg und München wird sie mit ihren Songs die Hallen zum Beben bringen.

von Jennifer Patrias

Taylor_Swift_-_1989_(Taylor's_Version)
Cover

Taylor Swift
1989 (Taylor’s Version) [Deluxe]
Pop

 

 

 

 

Zach Bryan: Zach Bryan

Kaltes Bier, blaue Jeans und qualmende Trucks. Um allzu beliebte und blümerante Motive von Country-Musik macht das Self-Titled Zach Bryan einen großen Bogen. Und auch sonst zieht der 27-Jährige weite Kreise: Aus kleinen Clubs in Oklahoma in die Stadien des Landes, vom Viral-Hit „Something in The Orange“ zur umfassenden LP.

Und die hat es in sich. Denn trotz Verzicht auf Genre-Konventionen entzündet sich beim Hörer rasch ein Lagerfeuer im Kopf. Zwischen melodische Melancholie mischen sich aber immer wieder eingängige Hooks und sogar tanzbare Klänge von Akustikgitarre und Banjo. Darüber reflektiert Bryan nostalgisch und organisch produziert seine Liebschaften sowie Lebensreisen. 

Ja, stimmlich ist beim Youngster noch Luft nach oben, das Album drei, vier Songs zu lang und ganz ohne Pick-up kommt die Single „I Remember Everything“ dann doch nicht aus. Wenn aber der ambivalente Rückblick zweier Verflossener so intensiv wie eindrücklich eingespielt ist, mögen Hörer auch das verzeihen.

Wichtiger ist nämlich die Summe der 16 Bryan-Songs: Nach wüsten Verwurstungen in Rap und Pop hat das in Mitleidenschaft gezogene Patriotismus-Vehikel Country als Genre ein großes Stück Identität zurück.

von Philip Thomas

Zach_Bryan_-_Zach_Bryan
Cover

Zach Bryan
Zach Bryan
Country